Wenn uns das Bundesamt für Statistik mitteilt, dass bis 2040 ein Viertel der Schweizer Bevölkerung über 65-jährig sein wird, denken wir primär an Finanzierbarkeit, Rentensicherheit und allenfalls den Generationenvertrag. Gerne geht vergessen, dass dieser demografische Trend auch die Medizin vor grosse Herausforderungen stellt. Besonders betroffen sind medizinische Disziplinen, welche chronische Erkrankungen von älteren Personen behandeln.
Patientenzuwachs für Augenärzte
Kaum ein anderes Fachgebiet ist davon so stark betroffen wie die Augenheilkunde. Die typische Patientenkarriere bei der Augenärztin beginnt im 5. Lebensjahrzent im Zusammenhang mit der Alterssichtigkeit, der Untersuchung des Augendrucks zur Früherkennung des grünen Stars (Glaukom) oder frühen Formen der Netzhautschädigungen wie beispielsweise der altersabhängigen Makuladegeneration. Letztere ist in westlichen Ländern die häufigste Ursache für Erblindung im Alter und entsprechend ist die rechtzeitige Behandlung zum Verhindern eines irreversiblen Sehverlusts, zur Sicherung der Autonomie und Lebensqualität von älteren Personen von hoher Bedeutung.
Simulationen zur Folge wird geschätzt, dass die Anzahl von Patienten, welche in der Schweiz wegen einer altersbedingten Netzhauterkrankung behandelt werden müssen, bis 2040 um 50 Prozent ansteigen wird. Darin noch nicht eingerechnet sind häufige chronische Netzhauterkrankungen, welche aktuell noch nicht, jedoch schon in naher Zukunft aufgrund von Medikamenten-Neuzulassungen behandelt werden können.
Die heute praktizierenden Augenärzte müssen sich auf einen deutlichen Patientenzuwachs vorbereiten. Um der starken Mengenausweitung zu begegnen, müssen Massnahmen ergriffen werden, die Behandlung effizienter zu machen, weil sonst in der Schweiz eine Unterversorgung und ein Qualitätsverlust der Behandlung droht. Die zwei wichtigsten Stellschrauben, um dies zu schaffen sind einerseits das Verhindern unnötiger Augenarztbesuche und andererseits pharmakologische Innovationen, welche grössere Therapieintervalle und damit seltenere Augenarztbesuche ermöglichen.
Selbstuntersuchung mit dem Smartphone
Um den Behandlungsbedarf rechtzeitig zu erkennen, hat die Schweizer Technologiefirma Oculocare Medical 2017 das digitale Medizinprodukt Alleye entwickelt, welches erlaubt, mit einem Smartphone eine hochwertige Selbstuntersuchung der Netzhaut zu Hause durchzuführen. Der Test entdeckt frühzeitig eine Verschlechterung der Sehfunktion und ermöglicht somit einen rechtzeitigen Arztbesuch und entsprechende Behandlung. Das Produkt wurde in mehreren Studien an Tausenden von Patienten wissenschaftlich untersucht.
Unter anderem konnte gezeigt werden, dass die regelmässige Heimmessung langfristig die Sehfunktion verbessert, die Therapietreue stärkt und pro Jahr und Patient eine Augenarztkontrolle spart. Der Test ist in über 30 Ländern weltweit zugelassen und im Einsatz und gewann vor allem während der SARS-CoV-2-Pandemie zusätzlich an Popularität, weil in vielen Ländern der Lockdown regelmässige Kontrollen im Spital verunmöglichte. Die Augenärzte hatten das Bedürfnis, den Patientinnen ein Hilfsmittel in die Hand zu geben, um eine Kontrolle zuhause durchzuführen. Somit konnten diejenigen Patienten, welche eine stabile Sehfunktion behielten, zu Hause bleiben und diejenigen, welche eine deutliche Verschlechterung zeigten mit erhöhter Dringlichkeit zur Kontrolle in der Praxis aufgeboten werden.
Augentest und mehr
Neben der Heimmessung der Sehfunktion erlaubt Alleye auch verabreichte Therapien zu erfassen sowie Befragungen zur Befindlichkeit oder – wie beispielsweise vom Zentralvorstand des Schweizerischen Ärzteverbands FMH propagierte – patientenbezogene Endpunkte, die sogenannten Patient-reported outcome measures (PROMs) zu erfassen. Die anonyme Auswertung dieser Daten verbessern das Verständnis darüber, wie es den Betroffenen tatsächlich geht. Heute ist es nämlich immer noch gang und gäbe, dass die Ergebnisse aus kontrollierten, wissenschaftlichen Studien, welche hinsichtlich der Wirksamkeit einer Therapie einen Idealzustandigen, nicht zum Vorteil von Patienten, unkritisch auf die Alltagssituation anwendet werden.
Neue innovative Therapiekonzepte
Vor allem bei chronischen Erkrankungen sind langwirksame Medikamente ein zweiter wichtiger Pfeiler der Versorgungseffizienz. Für die beiden wichtigen Netzhauterkrankungen, der altersabhängigen Makuladegeneration und dem diabetischen Makulaödem stehen seit Kurzem neue innovative Therapiekonzepte zur Verfügung, welche den Therapiebedarf auf etwa die Hälfte des heutigen Standes reduzieren lassen. Die geringere Anzahl von Praxisbesuchen entlastet aber nicht nur die Versorgungsseite, es ist auch für die Patienten selbst und alle Personen, welche Fahrdienste leisten oder die Patienten in die Praxis begleiten eine wichtige Erleichterung.
Neue Versorgungsansätze, welche mit Technologien wie Alleye möglich geworden sind, haben ein grosses Potenzial, werden aber leider noch zu wenig genutzt. Die Digitalisierung in der Medizin schürt viele Ängste hinsichtlich der Datensicherheit, Verlust der Privatsphäre und Überwachung. Allem voran sind es diese Befürchtungen, welche in den vergangenen Jahren einen Wust von neuen regulatorischen Massnahmen hervorgebracht haben, welche die Innovationskraft und die Implementierung neuer Technologien deutlich einschränken.
Es ist notwendig, dass hohe Sicherheitsstandards bei diesen Technologien gefordert werden. Viel wichtiger jedoch scheint der Anspruch an die Technologien, dass die Nutzer ihren Nutzen erkennen und vom Einsatz profitieren können. Längerfristig werden nur diejenigen Technologien genutzt, welche einen wesentlichen Patientennutzen haben und zeigen können. Entsprechend ist es wichtig, dass diese Technologien in einer möglichst engen Zusammenarbeit mit den Betroffenen entwickelt werden. Im Fall von Alleye beispielsweise war es genau diese Zusammenarbeit, die gezeigt hat, dass auch 80-jährige Patienten, welche eine Einführung erhalten haben, moderne Technologien gerne nutzen.
Umdenken ist notwendig
Das Potenzial von digitalen Gesundheitsanwendungen ist riesig. Neuesten Schätzungen zufolge, lässt sich in der Schweiz mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens bis zu 8,2 Milliarden Franken sparen. Damit sich dieses Potenzial tatsächlich entfalten kann, und die erwünschten Verbesserungen im Gesundheitswesen und der Patientenversorgung erzielt werden können, ist mancherorts noch ein Umdenken notwendig. Es bedarf neben guten Produkten auch Strukturen, welche die Implementierung unterstützen.
Digitalisierungsprogramme im Gesundheitswesen müssen gezielt gefördert werden und es müssen Anreizsysteme geschaffen werden, von denen diejenigen Patienten und Ärzte profitieren, welche sich auf die modernen Versorgungskonzepte einlassen.