Wer Langzeitpflege oder Betreuung benötigt – sei es im Alter oder aufgrund einer Beeinträchtigung – soll diese auch erhalten. Was einfach tönt und zwingend
eine Selbstverständlichkeit sein müsste, wird in der Realität zunehmend anspruchsvoller. Angesichts neuer Bedürfnisse, tiefgreifender Veränderungen
in der Gesellschaft, demografischer Entwicklungen und Fachkräftemangel sowie Verteilkämpfe, ist eine Vielzahl von Fragen zu klären. Ich nenne die Folgenden:
❱❱ Wie begegnen Politik und Gesellschaft den demografischen Herausforderungen, wenn die Jahrgänge der Babyboomer auf Pflege angewiesen sein werden?
❱❱ Welche Anforderungen stellen komplexe Krankheiten und das Lebensende an die Pflege?
❱❱ Wie lassen sich «falsche» Anreize verhindern?
❱❱ Wie kann sichergestellt werden, dass die Leistungserbringer nicht auf ungedeckten Kosten sitzenbleiben?
❱❱ Wie viel Geld sind Gesellschaft und Politik bereit für die Pflege auszugeben? Und woher kommen die Mittel für die Pflegefinanzierung?
❱❱ Wie lässt sich der herrschende Fachkräftemangel meistern?
Dringende Grundsatzdebatte zur Pflege
Die Politik hat den Ernst der Lage erkannt. Dies zeigt allein die Vielzahl an Vorstössen, die zurzeit hängig oder in Vorbereitung sind:
❱❱ Die Pflegefinanzierung: Mit der Anfang 2011 in Kraft gesetzten Pflegefinanzierung sollten die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) finanziell nicht
mehr zusätzlich belastet und die Situation von bestimmten Gruppen Pflegebedürftiger verbessert werden. Auch wenn der Bundesrat in seiner Evaluation zum
Schluss kommt, dass die Ziele grundsätzlich erreicht worden sind, so ortet er noch immer Handlungsbedarf bei der Restfinanzierung, der Patientenbeteiligung
und der Transparenz.
❱❱ EFAS, die einheitliche Finanzierung der ambulanten und stationären Behandlungen. Um falsche Anreize zu verhindern, solle die Krankenkassen neu alle ambulanten und stationären Behandlungen – mit Ausnahme der Langzeitpflege – vergüten. Die Kantone sollen einen Beitrag leisten, der insgesamt ihrem heutigen
Kostenanteil im stationären Bereich entspricht. Eine Ausdehnung von EFAS auf die Langzeitpflege wird ebenfalls diskutiert und vor allem von der Konferenz
der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) gefordert.
❱❱ Die Behebung des Fachkräftemangels: Die Pflegeinitiative sowie der indirekte Gegenvorschlag der nationalrätlichen Gesundheitskommission verfolgen das
Ziel, den Fachkräftemangel zu entschärfen.
❱❱ Betreutes Wohnen: «Betreutes Wohnen» will die Lücke zwischen der Spitex zu Hause und dem Pflegeheim schliessen. Die betroffenen Personen erhalten
die auf sie zugeschnittenen Leistungen. Der Nationalrat hat klar einer Motion zugestimmt, welche die Finanzierung des «Betreuten Wohnens» über Ergänzungsleistungen fordert.
Diese Auslegeordnung zeigt: Die Pflege und deren Finanzierung sind eine politische Grossbaustelle. Einzelvorlagen können Linderung bringen, aber die dringenden
Fragestellungen machen eine grundsätzliche Debatte nötig. Denn wer in einem komplexen System unüberlegt an einer Stellschraube dreht, riskiert unerwünschte
Veränderungen im Gesamtsystem und schlimmstenfalls eine Verschärfung der Probleme. Gefragt sind neue Wege, um das Gesamtsystem so auszugestalten,
dass die geschilderten Herausforderungen gemeistert werden können. Das verlangt von allen Akteuren den Willen zur Erneuerung und zur Verbesserung
und damit den Mut, neue Lösungen zu prüfen, Überholtes hinter sich zu lassen und im Interesse des Ganzen auf «Gärtchendenken» zu verzichten. Ich denke,
dass dafür ein radikaler Perspektivenwechsel nötig ist. Grundlegende Reformen werden nur möglich sein, wenn es uns gelingt, konsequent vom Menschen
her zu denken, der auf Pflege und Betreuung angewiesen ist. Hier setzt das Wohn- und Pflegemodell 2030 (WOPM 2030) von Curaviva Schweiz an.
Das Wohn- und Pflegemodell 2030 – eine Vision für selbstbestimmtes Leben
Das Modell ist eine Vision, wie selbstbestimmtes Leben trotz Pflegebedürftigkeit ermöglicht werden soll. In diesem Modell verstehen sich die Pflege-Institutionen als sozialraumorientierte Dienstleistungsunternehmen für Pflege, Betreuung und hauswirtschaftliche Leistungen. Die unterstützungsbedürftigen Menschen leben
in der von ihnen bevorzugten Wohnumgebung und beziehen bedarfsgerecht die individuell notwendigen Dienstleistungen. Aus diesem Modell ergeben sichfolgende Forderungen:
❱❱ Der Grundsatz «ambulant vor stationär» ist nicht mehr zielführend. Richtig muss es heissen: «Ambulant UND stationär». Wenn der individuell unterschiedliche
Bedarf des Betroffenen im Vordergrund steht, braucht es fliessende Übergänge zwischen den einzelnen Betreuungs- und Pflegeleistungen.
❱❱ Die bisherige Planung für stationäre Betten ist überholt. Es geht um den Bedarf an pflegerischen Dienstleistungen, und dieser muss in Zukunft ganzheitlicher
geplant werden.
❱❱ Das Finanzierungssystem ist zu vereinfachen. Die Vergütung von ambulanter und stationärer Pflege sowie deren Abrechnung sind soweit als möglich zu
harmonisieren.
❱❱ Bei den Ergänzungsleistungen für Betreutes Wohnen gibt es in vielen Kantonen Lücken. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen diese Wohnform nicht
in Anspruch nehmen können. Diese Lücke ist zu schliessen.
Bedarfs- und Bedürfnisorientierung senken die Kosten
Eine derartige Ausrichtung der Langzeitpflege auf die individuellen Bedürfnisse bedeutet eine Abkehr von der starren Angebotsorientierung – und damit weniger Kosten, weil die Ressourcen optimal allokiert werden. Curaviva Schweiz hat die Kostenwirkungen des WOPM 2030 im Rahmen einer unabhängigen Studie überprüfen lassen. Weil heutige Fehlanreize und kostentreibende Faktoren wegfallen, identifiziert die Studie ein Kosteneinsparpotenzial von bis zu sieben Prozent. Die Verlagerung in betreute Wohnformen führt zu geringeren Wegkosten, zu einem höheren Stellenwert informeller Pflege, zur Entflechtung von Pflegeleistungen
(weniger Vollversorgung) und zu einer besseren Nutzung von Synergien.
Neue Lösungsansätze für die Finanzierung
Wir haben einen weiten Weg vor uns. Drängende Fragen der Finanzierung müssen dabei sofort angepackt werden. Vorlagen wie EFAS stellen die Finanzierung auf
ein neues Fundament, bringen aber keine zusätzlichen Mittel. Um den steigenden Finanzbedarf zu decken, sind andere Lösungen gefragt. Dabei sollten ohne Scheuklappen Ideen gesammelt und diskutiert werden. Dazu gehören zum Beispiel die verschiedenen Vorschläge für eine Pflegeversicherung. Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, gezielt auf die Finanzierung von Pflege und Betreuung, steht zur Diskussion. Wir alle sind gefordert, weitere Vorschläge zu entwickeln, damit eine breite Debatte über die bestmögliche Lösung stattfinden werden kann.
Mit gezielten Schritten
Die Überlegungen in diesem Artikel wollen ganz bewusst einen Denkanstoss geben. Curaviva Schweiz hat mit dem WOPM 2030 eine Vision erarbeitet, welche sowohl den Bedürfnissen der Betroffenen als auch der wirtschaftlichkeit der Langzeitpflege gerecht wird. Es sind neue Wege zu gehen. Überlegt, umfassend, mit gezielten Schritten und in genügend hohem
Tempo. Ich bin überzeugt, dass das kundenzentrierte Wohn- und Pflegemodell dabei als Kompass dienen kann.