Eine der Voraussetzungen für den barrierefreien Warenhandel, namentlich die Aktualisierung des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA), ist bis heute nicht erfüllt. Die EU machte bereits Ende 2018 klar, dass sie ohne Paraphierung des Institutionellen Abkommens (InstA) weder neue bilaterale Verträge mit der Schweiz abschliessen noch bestehende aktualisieren wird. Damit wurde die Medtech-Branche zum polittaktischen Spielball EU– Schweiz.
«Es war früh klar, dass die Aktualisierung des MRA eine reine Frage des politischen Willens beider Verhandlungspartner ist. Unsere Empfehlung an die Schweizer Medtech-Branche lautete deshalb schon vor zwei Jahren: Wer den Warenexport in die EU lückenlos und unabhängig von der politischen Situation EU–Schweiz sicherstellen will, muss sich auf die Eventualität ‹Drittstaat› vorbereiten», sagt Peter Biedermann, Geschäftsleiter von Swiss Medtech. Diese Nachricht traf die Medtech-Branche zu einem Zeitpunkt grösster Herausforderungen. Allein die Implementierung der MDR ist und bleibt ein grosser Kraftakt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, bei deren Bewältigung die Medizintechnik eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem spielt.
«Die letzten zwei Jahre hat Swiss Medtech seinen Mitgliedern enorm viel abverlangt. Die Branche hat sich mit beispiellosem Einsatz so gut wie möglich auf die erhöhten Anforderungen für den Warenexport in die EU vorbereitet», sagt Peter Biedermann. Dazu gehören im Wesentlichen die Benennung eines Bevollmächtigten im EU-Raum, der stellvertretend Herstelleraufgaben inklusive Produkthaftung übernimmt, sowie die entsprechende Neubeschriftung der Produkte (Labeling). Dies nicht ohne Preis: Der Administrationsaufwand zur Erfüllung der Drittstaat-Anforderungen kostet die Schweizer Medizintechnikindustrie initial schätzungsweise 114 Millionen Franken und jährlich wiederkehrend 75 Millionen Franken. Diese Kosten entsprechen 2 Prozent bzw. 1,4 Prozent des Exportvolumens (CHF 5,2 Mrd.) von der Schweiz in die EU. «Über die gesamte Schweizer Medtech-Branche betrachtet, sind die reinen Administrationskosten verkraftbar. Uns sorgen vielmehr der Verlust der Standort-Attraktivität und die damit verbundenen, negativen Konsequenzen. Für aussereuropäische Firmen etwa, die ihren Hauptsitz in Europa stationieren wollen, verliert die Schweiz gegenüber EU-Ländern aufgrund der Drittstaat-Bürokratie massiv an Investitions-Attraktivität. Sorgen bereitet uns auch, dass Schweizer Start-ups ihren Sitz anstatt in der Schweiz vermehrt in der EU ansiedeln könnten. Wer also lediglich feststellt, die Administrationskosten seien verkraftbar, verkennt völlig, wie hart der internationale Konkurrenzkampf ist», kommentiert Beat Vonlanthen, Präsident von Swiss Medtech, die Zahlen.
Neues Rechtsgutachten
Ein Rechtsgutachten stellt das EU-Handeln jetzt infrage. In Absprache mit Swiss Medtech hat Medtech Europe der Anwaltskanzlei Sidley Austin den Auftrag gegeben, die rechtliche Basis für diese Mitteilung abzuklären. Das Memorandum von Sidley vom 2. Juli 2021 kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:
- Die einseitige Entscheidung der Kommission, die Anwendung des MRA einzustellen, und die Rücknahme der gegenseitigen Anerkennung für bestehende Schweizer Medizinprodukte, wie sie in der Mitteilung zum Ausdruck kommt, verstossen gegen EU-Recht, das MRA und WTO-Recht.
- Entgegen der in der Mitteilung vertretenen Position muss bestehenden Schweizer Medizinprodukten der Zugang zum EU-Markt unter denselben Bedingungen wie allen anderen «legacy devices» gewährt werden.
- Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen den Verkauf aller MDD-Produkte mit einer gültigen Bescheinigung, die von einer Schweizer benannten Stelle vor dem 26. Mai 2021 ausgestellt wurde, in der EU weiterhin zulassen.
Was dieses Gutachten für die Praxis bedeutet, ist noch ungeklärt. Mündlich hat die EU-Kommission nach Aussage von Swiss Medtech zugestanden, dass die neue Direktive vom 26. Mai nicht umgesetzt wird und Schweizer Waren nach den alten Bestimmungen behandelt werden, aber offiziell ist diese Verlautbarung noch nicht.