Als im Dezember 2019 aus der chinesischen Millionenstadt Wuhan die ersten Meldungen über einen neuen aggressiven Virus eintreffen, ist alles noch weit weg. Doch schon bald folgen die Fernsehbilder aus der italienischen Lombardei mit überfüllten Spitälern, in denen Patienten, die sich mit dem bis anhin unbekannten Corona-Virus SARS-CoV-2 infiziert haben, beatmet werden. Schlecht geschütztes Pflegepersonal kämpft zusammen mit
den Ärzten und Ärztinnen Tag und Nacht um Leben und Tod. Es folgen die ersten Corona-Fälle im Tessin, und am 16. März ruft der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» aus; gemäss Epidemiegesetz werden die Massnahmen insbesondere zum Schutz der vulnerablen Bevölkerung über
65 sowie für Personen mit Vorerkrankungen verschärft.
Auf einen Schlag wird nicht nur den verantwortlichen Behörden, sondern auch einer breiten Bevölkerung bewusst, wie wichtig es ist, qualifizierte Pflegefachpersonen zu haben, die in der Lage sind, die Patientinnen und Patienten auf den im Eiltempo aufgebauten Covid-19-Intensivpflegestationen
fachgerecht zu beatmen und zu pflegen.
Gleichzeitig wird der Normalbetrieb in den Spitälern heruntergefahren, und es werden Wahleingriffe hinausgeschoben. Auch Pflegende in Heimen, der Spitex, Psychiatrie und weiteren Organisationen, in denen zu Risikogruppen gehörende Menschen gepflegt werden, sind gefordert. Umfassende Hygienemassnahmen, veränderte Tagesstrukturen bis hin zur Isolation von Patienten werden implementiert – und das unter teilweise verheerenden
Bedingungen, weil das Schutzmaterial fehlt, weil die Pflegenden im Fokus der Öffentlichkeit stehen.
SBK: Schutz des Personals
Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK reagiert sofort und unternimmt alles, um die an der Front tätigen Pflegenden zu schützen. Denn die Kantone und die Institutionen haben es vorher versäumt, Pflichtlager mit genügend Schutzmaterial anzulegen. Dank guten Beziehungen kann der SBK aus Hongkong 10 000 hochwertige N95-Masken beziehen und an die Intensivstationen im Tessin liefern. In einer einzigartigen Aktion sammeln zudem Spieler der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft 144 000 Franken, mit denen der SBK Schutzmaterial für die freiberuflichen Pflegefachpersonen, für die Spitex und für Hebammen finanziert. Der SBK interveniert zusammen mit anderen Verbänden
bei den Kantonsapothekern, den Kantonsärzten, dem BAG und zusammen mit den Gewerkschaften beim Bundesrat, der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften für das Gesundheitspersonal ausser Kraft gesetzt hat. Verschiedene Kantone nutzen das Angebot des SBK, unter seinen Mitgliedern zusätzliche Pflegefachpersonen zu rekrutieren, um für das Worst-Case-Szenario vorbereitet zu sein. Der Verband erarbeitet Empfehlungen für den Einsatz von Pflege-Studierenden HF/FH und FaGe-Lernende. Die Empfehlungen für Arbeitnehmende werden fast täglich
aktualisiert. Die SBK-Ethikkommission veröffentlicht eine Stellungnahme zu den Massnahmen und den ethischen Herausforderungen
der Covid-19-Pandemie und den Folgen der Isolierung der Risikogruppen.
Offener Brief und Appell
Am 21. April gelangt der SBK in einem offenen Brief an die Mitglieder des National- und des Ständerates und verlangt, dass den Worten nun endlich Taten folgen müssten. Er beklagt, dass die Pflegenden die Zeche für jahrelange Versäumnisse der Politik bezahlen müssen. Denn das Pflegepersonal arbeitet schon in normalen Zeiten über der Belastungsgrenze und setzt dabei seine Gesundheit aufs Spiel. Der Brief löst ein positives
Echo aus und findet grosse Resonanz in den Medien. Wie in vielen anderen Ländern bedanken sich auch in der Schweiz viele Menschen mit Applaus von den Balkonen und an den Fenstern. Eine breite Öffentlichkeit anerkennt, dass die professionelle Pflege systemrelevant ist, dass ohne Pflege im Gesundheitssystem nichts läuft, dass sie vielmehr der Treibstoff und der Motor des Gesundheitssystems ist. Dies unterstreicht auch die Weltgesundheitsorganisation WHO, die 2020 als Internationales Jahr der Pflegefachpersonen und Hebammen ausgerufen hat – 200 Jahre nach der Geburt von Florence Nightingale, der Begründerin der modernen Krankenpflege.
An diesem Geburtstag am 12. Mai, dem internationalen Tag der Pflegenden, doppelt der SBK nach, mit einem Appell für die Pflege. Der Aufruf wird innert Stunden von Tausenden unterschrieben, Ende Juni sind es 70 000. Im Appell an die Politik wird verlangt, dass mehr Pflegefachpersonen
ausgebildet werden und dass sie länger im Beruf bleiben. Heute steigt fast jede zweite Pflegefachperson wieder aus dem Beruf aus, und ohne griffige
Massnahmen werden in zehn Jahren 65 000 Pflegende fehlen. Pflegequalität und Patientensicherheit sollen gesichert werden durch eine definierte Anzahl von Patienten, für die eine Pflegefachperson zuständig ist. Mehr Eigenverantwortung, indem bestimmte Leistungen direkt mit den Krankenkassen abgerechnet werden können, und bessere Arbeitsbedingungen sollen die Attraktivität des Berufs erhöhen und dafür sorgen, dass Ausgebildete auch im Beruf bleiben.
Pflegeinitiative und Gegenvorschlag
Dies sind alles Forderungen der Volksinitiative «Für eine starke Pflege», für die der SBK in nur acht Monaten 120 000 Unterschriften gesammelt und die er am 29. November 2017 eingereicht hat.
Der Bundesrat hat trotz Personalnotstand in der Pflege und der grossen Abhängigkeit von ausländischem Pflegepersonal kein Gehör für die Initiative, er lehnt sie ohne Gegenvorschlag ab. Handlungsbedarf sieht jedoch die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N). Sie kreiert einen indirekten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative mit dem Titel «Für eine Stärkung der Pflege – für mehr Patientensicherheit
und mehr Pflegequalität». Am 17. Dezember – noch vor der Corona-Krise – genehmigt der Nationalrat diesen Gegenvorschlag. Er beinhaltet Ausbildungsbeiträge von 469 Millionen Franken vom Bund an angehende diplomierte Pflegefachpersonen HF und FH, Ausbildungsbetriebe und
Pflegeschulen. Der gleiche Betrag soll von den Kantonen kommen. Zudem können Pflegefachpersonen bestimmte pflegerische Leistungen auch ohne ärztliche Verordnungen bei den Kassen in Rechnung stellen.
Rückschlag im Ständerat
Kurz nachdem die Pflegenden wesentlich zum glimpflichen Ablauf der ersten Welle der Corona-Pandemie beigetragen haben, kommt der Rückschlag im Ständerat. Die kleine Kammer speckt den nationalrätlichen Vorschlag wieder ab. Die Ausbildungsoffensive ist nicht mehr verpflichtend für die Kantone, und die Ständeräte wollen die eigenverantwortliche Abrechnung von bestimmten Pflegeleistungen an Einzelvereinbarungen mit den Kassen
knüpfen. So soll durch die Hintertür der Vertragszwang der Kassen aufgeweicht werden.
In der kommenden Herbstsession wird es deshalb zu einer Differenzbereinigung zwischen Ständerat und Nationalrat kommen, vielleicht sogar zu einer Einigungskonferenz. Anschliessend wird das Initiativekomitee entscheiden, ob es diesen Gegenvorschlag gutheisst oder ob es an der Pflegeinitiative festhalten will. Im zweiten Fall kommt es frühestens im ersten Halbjahr 2021 zur Volksabstimmung über die Pflegeinitiative.
Fakten und Studien negiert
Dass es pflegerische Anliegen derart schwer haben, politische Mehrheiten zu finden, ist erstaunlich. Denn es liege seit Jahren Fakten und internationale Studien vor, die zeigen, dass genügend qualifiziertes Pflegepersonal Hunderte von Todesfällen verhindern würde und gleichzeitig
Milliarden an Gesundheitskosten eingespart werden könnte. Erst im Februar dieses Jahres hat ein Team um den Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Michael Simon und dem Ökonomen Prof. Dr. Michael Gerfin Daten des Bundesamtes für Statistik von 135 Spitälern und mehr 1,2 Millionen Patienten analysiert. Die ausgewerteten Daten zeigen unter anderem, dass ein tieferer Anteil an diplomierten Pflegefachpersonen zu längeren Spitalaufenthalte
führt: weniger als 10 qualifizierte Pflegestunden/Tag und weniger als 88 Prozent Diplomierte im Pflegeteam führen zu 223 020 zusätzlichen Pflegetagen und damit zu Kosten von 357 Millionen Franken pro Jahr.
Auch der im April 2020 von der WHO veröffentlichte State of the World’s Nursing Report betont, dass Investitionen in die professionelle Pflege nicht nur zur Erreichung der gesundheitsbezogenen nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) beiträgt, sondern auch zu Verbesserungen in den Bereichen Bildung, Gender, Arbeit und Wirtschaftswachstum. Denn der Mangel an Pflegefachpersonen ist ein globales Problem, dass sich in den kommenden
Jahren massiv verstärken wird. Wie fragil auch vermeintlich hochstehende Gesundheitssysteme sind, weil die Fachpersonen fehlen, hat leider die Corona-Pandemie allzu deutlich gezeigt.