Der Bedarf an einer alternativen Therapieform ist daher hoch. Künftig soll eine elektronische Sehhilfe mit multimodaler Sensorintelligenz das gesunde Auge adaptiv verdunkeln und die Kinder beim korrekten Tragen unterstützen. Dank der neuen Technologie lässt sich die Okklusion des Auges so steuern, dass sie bei bewegungsintensiven Aktivitäten (z. B. Laufen, Springen, Fahrradfahren) unterbrochen werden kann, um Unfälle aufgrund eines fehlenden räumlichen Sehvermögens zu vermeiden.
Eine solche innovative Shutterbrille wurde im BMBF-Verbundprojekt »InsisT« in Form eines Demonstrators entwickelt. Für die Steuerung der Brille sorgen intelligente Algorithmen, die durch eine effiziente Verarbeitung der multimodalen Sensordaten erstmals ein kontinuierliches Therapiemonitoring ermöglichen. Die Sensordaten beinhalten Messwerte eines Beschleunigungssensors und von Körperkontaktsensoren. Die Algorithmen überwachen den Zustand der Trageposition, die Aktivität des Trägers und das konfigurierte Okklusionsmuster, um daraus die effektive Trage- und Okklusionsdauer zu berechnen. Abgeleitete Zustandsvariablen werden zum Zwecke der Protokollierung und späteren Analyse im Brillengestell gespeichert, so dass die Brille auch ein Datenlogger ist. Die Verdunkelung der LCD-Gläser erfolgt elektronisch. Der Verdunkelungseffekt entsteht durch das Ein- und Ausschalten der integrierten Flüssigkristalle. Der Takt der Okklusion lässt sich steuern und individuell anpassen, was ein wesentlicher Vorteil gegenüber der bisherigen Therapie mit Klebepflaster ist.
Expertise des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT
Wissenschaftler*innen des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT leisteten die technische Entwicklung der Brillenelektronik, der Algorithmen sowie einer Smartphone-App, mit der die Eltern des erkrankten Kindes die Therapie überwachen können. Sämtliche Informationen werden in einer sicheren digitalen Patientenakte gesammelt, ebenfalls eine Entwicklung der IBMT-Wissenschaftler. Diese datenschutzkonforme Webanwendung ist für den Arzt zugänglich, der den Therapieverlauf kontrollieren, anpassen und optimieren kann. Er erfährt, ob und wie lange die Brille getragen wurde. Diese Transparenz fehlte bei der bisherigen Behandlungsmethode. Ziel dieses digitalen Therapiemanagementsystems ist es, erstmals eine individualisierte Therapie von Amblyopie bei Kindern möglich zu machen.
In einer Machbarkeitsstudie wurde die technische Leistungsfähigkeit dieser neuen Technologie zunächst an gesunden Kindern untersucht. Die durchschnittliche Überein¬stimmung der richtig erkannten Zustände der Trageposition sowie der Aktivität lieferte gute Ergebnisse. Das Abnehmen der Brille wurde beispielsweise immer korrekt erkannt und die Okklusion wurde immer zuverlässig unterbrochen, wenn eine Aktivität mit intensiver Bewegung erkannt wurde. Das Gewicht liegt derzeit bei etwa 45 Gramm und soll weiter reduziert werden.
Aufgrund des adaptiven Shutterbetriebs und der integrierten Sensorintelligenz geht der realisierte Demonstrator weit über den Stand einfacher Shutterbrillen mit fest vorgegebenem Okklusionsmuster hinaus. Dieses innovative »Wearable« stellt die technologische Basis für eine individualisierte Therapie von Amblyopie bei Kindern mit kontinuierlichem Therapiemonitoring dar. Wir streben an, mit diesem neuen Therapieansatz die durchschnittliche Tragezeit im Vergleich zur derzeitigen Situation mindestens zu verdoppeln und durch die erhöhte Therapieadhärenz die Zahl der erfolgreichen Therapien deutlich zu erhöhen.
Das nach einer Laufzeit von drei Jahren erfolgreich abgeschlossene Verbundprojekt »InsisT« wurde unter der medizinischen Leitung der Augenklinik Sulzbach bearbeitet. Weitere Projektpartner waren die Novidion GmbH und die BEO MedConsulting Berlin GmbH. In die interdisziplinäre Entwicklung flossen die Kompetenzen des Fraunhofer IBMT im Bereich der Mikrosensorik, der drahtlosen Energie- und Datenübertragung sowie der Softwareentwicklung zum datenbasierten »Disease Management« mit integrierter Analysefunktionalität und Entscheidungsunterstützung ein. Nun gilt es den funktionalen Demonstrator mit Unterstützung weiterer Medizintechnikunternehmen weiterzuentwickeln. Basierend auf der neuen Technologie sind natürlich auch Anpassungen für andere Anwendungen umsetzbar.
»InsisT« wurde im Rahmen des Forschungsprogramms »Technik zum Menschen bringen« auf dem Gebiet »Interaktive körpernahe Medizintechnik« vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.