Inkontinenz ist ein vielschichtiges Problem: Über 400 Millionen Menschen weltweit leiden an einer Form von Inkontinenz (1). Laut Schweizerischer Gesellschaft für Blasenschwäche sind circa 500 000 Schweizer Bürger von Urininkontinenz betroffen (2). Es wird jedoch mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet. Je nach Schwere der Inkontinenz ergeben sich pro Patient jährliche Materialkosten von bis zu 2953 Franken für aufsaugende Inkontinenzhilfsmittel (3). Die Kostenbelastung der Schweizer Krankenversicherer liegt im dreistelligen Millionenbereich. Hinzu kommen weitere Kosten für Pflege- und Behandlungsaufwand von inkontinenz-assoziierten Sekundärerkrankungen wie Harnwegsinfektionen und Druckgeschwüren, sodass die jährlichen Gesamtkosten für Inkontinenz nach Schätzungen im Milliardenbereich liegen.
Bisher keine Transparenz über optimalen Wechselzeitpunkt
Da das Auftreten und die Schwere der Inkontinenz mit dem Alter ansteigen, ist die Inkontinenzversorgung in Altenpflegeheimen eine der zentralen Pflegeaufgaben des Personals. Laut einer Studie des Bundesamts für Statistik ist die Mehrheit, nämlich 80 Prozent, aller Heimbewohner von Inkontinenz betroffen und benötigt täglich die Versorgung mit Inkontinenzprodukten (4). Dies verursacht einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Transparenz über den Echtzeit-Pflegebedarf, also auch über den optimalen Wechselzeitpunkt der aufsaugenden Inkontinenzhilfsmittel. So richten sich heute die Hygienemassnahmen nach Pflegeplänen und Routinekontrollen und nicht nach dem Echtzeit-Bedarf der Heimbewohner. Auch kognitive oder physische Einschränkungen der inkontinenzbetroffenen Pflegeempfänger verhindern eine zeitnahe Hygieneversorgung, da diese Betroffenen nicht die Fähigkeiten besitzen, auf eine Wechselnotwendigkeit des Inkontinenzprodukts hinzuweisen. Aber auch uneingeschränkte Senioren melden selten eigenständig die Notwendigkeit für einen Toilettengang oder einen Wechsel des Hygieneprodukts, denn sie wollen den Pflegekräften schlichtweg nicht zur Last fallen.
Die wahrscheinlich grösste Herausforderung ist das wachsende Missverhältnis zwischen Pflegepersonal und Pflegebedürftigen. Dieses erschwert die Durchführung eng getakteter Routinekontrollen und somit den rechtzeitigen Wechsel verschmutzter Inkontinenzprodukte. Das Resultat ist ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Sekundärerkrankungen bei betroffenen Heimbewohnern, welches sich in hohen Fallzahlen von Hautirritationen, Harnwegsinfektionen und Druckgeschwüren widerspiegelt.
Moderne Sensoren bestimmen optimalen Wechselzeitpunkt
Das Berliner Start-up AssistMe hat es sich zum Ziel gesetzt, den Pflegeprozess für Pflegekräfte und Gepflegte zu verbessern. Um dies zu erreichen, entwickelt AssistMe seit 2017 ein digitales, sensor-basiertes Assistenzsystem für die Unterstützung der Inkontinenzversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen. Mithilfe von modernen Sensoren an handelsüblichen, aufsaugenden Inkontinenzhilfsmitteln kann das System den Echtzeit-Pflegebedarf inkontinenzbetroffener Heimbewohner für das Pflegepersonal über eine Smartphone App sichtbar machen. Diese Bedarfstransparenz schafft die Voraussetzung für eine zielgerichtete und zeitnahe Ausführung der pflegerischen Tätigkeiten. AssistMe nennt einen solchen zielgerichteten und bedarfsorientierten Pflegeprozess «Präzisionspflege». Für die betroffenen Bewohner bedeutet Präzisionspflege: Weniger Routinekontrollen im Intimbereich, kein unnötiges Wecken in der Nacht, verbesserte hygienische Bedingungen und vor allem die Förderung eines gesunden und würdevollen Alterns.
Mit digitaler Assistenz transparenter und effizienter pflegen
AssistMes digitaler Assistent besteht aus modernen Sensoren, einem Clip für die Datenübertragung, einem Cloud-Server für die Datenverarbeitung und Speicherung, einer mobilen Smartphone App und einer Webanwendung für die Informationsausgabe und Datenanalyse. Die am Inkontinenzhilfsmittel befestigten Sensoren erkennen den Wechselbedarf in Echtzeit und differenzieren dabei zwischen Urin- und Stuhlausscheidungen. Der wiederverwendbare Clip wird vom Pflegepersonal am Inkontinenzprodukt angebracht und übermittelt die Sensordaten in verschlüsselter Form an den Cloud-Server. Dort werden die Daten in praxisrelevante Informationen umgewandelt und nach neuesten Sicherheitsstandards gespeichert. Den Pflegekräften wird die Auslastung aller aktuell im Einsatz befindlichen Inkontinenzprodukte in einer Bewohnerübersicht auf dem Smartphone angezeigt. Bei dringendem Wechselbedarf eines Inkontinenzhilfsmittels werden die Pfleger zusätzlich durch einen Alarm auf die Situation aufmerksam gemacht. Dies unterstützt die Pflegenden bei der Koordination ihrer Pflegeaufgaben und ermöglicht ein effizientes Arbeiten bei hoher Pflegequalität. Die Funktionen des digitalen Assistenzsystems:
- Echtzeiterkennung der Auslastung des Inkontinenzprodukts (Urin und Stuhl)
- Alarm bei Wechselbedarf des Inkontinenzprodukts
- Lückenlose Dokumentation der Inkontinenzversorgung
- Nachverfolgung des Materialverbrauchs
70 Prozent Verkürzung der Liegezeit in Ausscheidungen:
Während der ersten Feldtests in Altenpflegeheimen in Deutschland wurde eine deutliche Verkürzung der Liegezeit in Ausscheidungen von über 2,5 Stunden auf unter eine Stunde beobachtet. An den Tests nahmen sowohl mobile und bettlägerige als auch demenziell erkrankte Bewohner teil. Das Testresultat lässt vermuten, dass der Einsatz des digitalen Assistenzsystems auch mit einer Reduktion des Risikos für die Entstehung von inkontinenz-assoziierten Sekundärerkrankungen einhergehen kann. Kontrollierte klinische Studien zum Nachweis der positiven Gesundheitseffekte durch den Einsatz des Systems sind von AssistMe für 2020 geplant.
Durch Beobachtung und Befragung der am Feldtest partizipierenden Pflegenden zeigte sich eine hohe Nutzerakzeptanz des Assistenzsystems. Dabei wurde die Handhabung des wiederverwendbaren Clips als einfach und dessen Tragekomfort für den Bewohner mit über 88 Prozent positiv beurteilt. Alle befragten Pflegenden beantworteten die Frage, ob sie das System auch in Zukunft nutzen möchten und in diesem Zuge bereit wären ihre Arbeitsabläufe anzupassen, einheitlich mit «Ja».
Vom digitalen Inkontinenzassistenten zum umfassenden Pflegeassistenzsystem:
Durch den Einsatz verschiedener Sensoren können zukünftig weitere pflegerelevante Anwendungen in AssistMes digitales Assistenzsystem integriert werden, ohne dabei separate Geräte zu benötigen. Ein Beispiel: Mit Bewegungssensoren kann das System die Lage und Körperposition einer bettlägerigen Person bestimmen, das Pflegepersonal über Eigenbewegung informieren und diese automatisch dokumentieren. Dies hilft den Pflegern, das Lagerungsmanagement im Rahmen der Dekubitusprophylaxe effizient durchzuführen und reduziert gleichzeitig den manuellen Dokumentationsaufwand. An der Weiterentwicklung der Funktionen des Systems wird bei AssistMe bereits eifrig gearbeitet, damit die personalisierte Präzisionspflege im gesamten Pflegeprozess zum neuen Standard wird.
Potenzial für die Weiterentwicklung des Assistenzsystems gibt es nicht nur bei der Bewegungserkennung für das Lagerungsmanagement. Auch die Lokalisierung des Aufenthaltsortes demenziell erkrankter Bewohner und ein nächtliche Aktivitätserkennung für die Sturzprävention ist zukünftig möglich.
Silke Grimmer leitet AssistMes Product Team und verantwortet die Bereiche UX Research, Product Design, Product Management und Clinical Affairs. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als Zahnärztin und wechselte 2012 in die Medizintechnik, wo sie als Global Product Manager für Unternehmen in der Schweiz und in Frankreich tätig war. 2015 absolvierte sie ein internationales MBAStudium an der IE Business School in Madrid.
▶ Für weitere Informationen und bei Interesse an Tests des digitalen Assistenzsystems besuchen Sie bitte die Website www.assistme.io oder nehmen Sie direkt mit AssistMe Kontakt auf unter silke.grimmer(at)assistme.io.
(1) GFI - Global Forum of Incontinence www.gfiforum.com/incontinence
(2) Schwezerische Gesellschaft für Blasenschwäche www.inkontinex.ch
(3) Santésuisse www.santesuisse.ch/fileadmin/sas_content/Beilage_2_05.pdf
(4) Schweizer Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Statistik: “Gesundheit von Betagten in Alters- und Pflegeheimen - Erhebung zum Gesundheitszustand von betagten Personen in Institutionen (2008/09)”