Die Verschiebung der schweizweiten Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) auf Herbst hat viele Teilnehmer im Schweizer Gesundheitswesen überrascht. Zu den Gründen äusserte sich Annatina Foppa von eHealth Suisse, dem Koordinationsorgans des Bundes: «Es gibt nicht eine bestimmte Stelle, die zur Verzögerung führt. Das EPD ist ein Projekt der Zusammenarbeit, es gelingt nur im Zusammenwirken von mehreren Akteuren – und dieser Prozess erweist sich als aufwändig und zeitraubend. Nach dem Zertifizierungsverfahren folgt noch der Akkreditierungsprozess, der ebenfalls Zeit in Anspruch nimmt.»
Gemäss Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG), das seit dem 15. April 2017 in Kraft ist, müssen Akutspitäler, Reha-Kliniken und stationäre Psychiatrien sich innert drei Jahren einer zertifizierten Stammgemeinschaft anschliessen. Diese Frist fällt somit auf den 15. April 2020 und gilt als Einführungstermin des EPD.
Eine Vielzahl von Akteuren arbeiten derzeit an der Einführung des EPD. Neben den dezentralen Stammgemeinschaften, die das EPD anbieten werden, sind dies die Entwickler der technischen Plattformen (beispielsweise Swisscom Health) die Zertifizierungsstellen, die Akkreditierungsstelle und die Anbieter von elektronischen Identifikationsmitteln. Bei allen Stammgemeinschaften sind die Verfahren zur Zertifizierung angelaufen.
Dezentrale Umsetzung als Bremse?
Der ganze Prozess ist komplex, keine Frage. Aber hätte man nicht früher reagieren können, die Planung der Einführung zieht sich ja schon über mehrere Jahre? Dazu Foppa: «Die Zertifizierung von EPD-Gemeinschaften ist neu und wurde noch nie durchgeführt. Im Vorfeld gab es Annahmen und Einschätzungen, die Realität ist aber anders. Die (Stamm-)Gemeinschaften als EPD-Anbieter sind neue Organisationen, die sich zuerst bilden mussten.»
Der Aufbau der Stammgemeinschaften ist aufwändig und das Zertifizierungsverfahren anspruchsvoll, gerade auch wegen den sehr hohen Anforderungen an den Datenschutz und an die Datensicherheit des national vernetzten EPD. Die Zertifizierung der Stammgemeinschaften muss zum Schutz der Patientinnen und Patienten sorgfältig durchgeführt werden und benötigt deshalb Zeit. Durchgeführt werden diese Verfahren von zwei privaten, darauf spezialisierten Firmen. Diese Firmen können einer Stammgemeinschaft erst dann ein Zertifikat ausstellen, wenn sie selber von der Schweizerischen Akkreditierungsstelle SAS als EPD-Zertifizierungsstelle anerkannt sind. Der Akkreditierungsprozess der SAS, der zu dieser Anerkennung führt, dauert sechs bis acht Wochen und kann erst nach Abschluss des eigentlichen Zertifizierungsverfahrens an die Hand genommen werden. Das Alles dauert nun länger als geplant.
Vor diesem Hintergrund ist es schwierig zu beurteilen, ob die Verzögerung hätte vermieden werden können. «Teilweise wird beispielsweise angeführt, dass die dezentrale Umsetzung den Prozess verlangsamen würde. Doch ob ein nationales Grossprojekt einfacher zu etablieren wäre, muss bezweifelt werden. Hinzu kommt, dass das EPD als Projekt der Zusammenarbeit zwischen den Behandelnden und für den Einbezug der Patienten zu verstehen ist. Somit ist die regionale Verankerung ein wichtiger Erfolgsfaktor für das EPD», erläutert Annatina Foppa.
Swisscom Health möchte sich zu den Ursachen der Verzögerung nicht äussern und verweist auf die Stammgemeinschaften. Roger Welti von Swisscom Health: «Wir können keine Stellung zu den aktuellen Diskussion zum Einführungstermin nehmen. Unsere Rolle ist diejenige des Technologielieferanten für die XAD-Stammgemeinschaft beziehungsweise die Axsana AG.» Eine Anfrage an den Geschäftführer der Axana blieb unbeantwortet.
Programmausschuss nimmt Verzögerung zur Kenntnis
Der Programmausschuss von Bund und Kantonen zum EPD überprüft die Fortschritte und die Umsetzung regelmässig. Die Akteure wie die Stammgemeinschaften und die Zertifizierungsstellen arbeiten aber in eigener Verantwortung. Der Programmausschuss hat zur Kenntnis genommen, dass es in diesem komplexen Projekt mit seiner dezentralen Struktur zu Verzögerungen kommt. Er anerkennt, dass der Umfang des Zertifizierungsverfahrens zum Zeitpunkt der Gesetzgebung nicht genau abgeschätzt werden konnte. Der Programmausschuss erwartet aber, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz bis im Herbst 2020 ein EPD eröffnen können. Er klärt zudem ab, ob die Stammgemeinschaften die Zeit bis zur endgültigen Zertifizierung mit einer Testphase optimal nutzen können.
Es bleibt abzuwarten, ob die schweizweite Einführung des EPD tatsächlich im Herbst vollzogen wird. Foppa: «Eine Garantie gibt es nicht. Allerdings wird die Prognose genauer, je weiter der Prozess der Zertifizierung in den Stammgemeinschaften fortgeschritten ist.»
Bedeutung für die Spitäler und Kliniken
Gemäss Bundesgesetz über das Elektronische Patientendossier (EPDG) müssen sich alle Akutspitäler, Reha-Kliniken und stationäre Psychiatrien bis zum 15. April 2020 einer zertifizierten Stammgemeinschaft anschliessen. Dies wird schweizweit voraussichtlich nicht möglich sein. Eine Streichung eines Spitals von der kantonalen Spitalliste wegen Nicht-Einhalten dieser Vorgabe betrachten Bund und Kantone allerdings als unverhältnismässig. Für die Gesundheitsversorgung in der Schweiz hat ein verspäteter EPD-Anschluss der Spitäler somit kurzfristig keine Konsequenz.
Weil die Kantone aber um gesetzeskonforme Spitallisten bemüht sind, hat die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) im Januar 2020 Handlungsempfehlungen zuhanden der Kantone erarbeitet:
- Um die rechtliche Verpflichtung der Listenspitäler zu prüfen, fordern die Kantone bis am 30. März 2020 einen schriftlichen Nachweis über den Beitritt zu einer Stammgemeinschaft ein. Je nach Ausgestaltung des kantonalen Rechts kann ein Kanton ausdrücklich verlangen, dass ein Listenspital zu einer vom Kanton gewählten Stammgemeinschaft beitritt.
- Können die Listenspitäler diesen Nachweis nicht erbringen, soll ihnen eine einmonatige Frist gewährt werden. Nach Verstreichen dieser Frist kann der Kanton angemessene Mittel ergreifen, um säumige Spitäler zu einem Beitritt zur einer Stammgemeinschaft zu bewegen.
- Gemäss Programmausschuss ist es realistisch, dass die Stammgemeinschaften bis spätestens 30. Oktober 2020 zertifiziert sind. Bis zu diesem Datum bezahlen die Kantone den Listenspitälern, die einer Stammgemeinschaft beigetreten sind, weiterhin den Kantonsanteil für die Abgeltung stationärer Behandlungen.