In den entwickelten Gesundheitssystemen zeichnet sich der Trend zu einer Spital-, Psychiatrie- oder Pflegeheim-Versorgung ab, die durch patientenzentrierte Leistungs-, Organisations- und Servicestrukturen gekennzeichnet ist. Dabei werden die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt: In Deutschland dominiert die Umweltorientierung – das «grüne Krankenhaus» spart Energie, verwendet recycelbare Materialien und achtet auf Strahlenbelastung und Müllverwertung. In den USA und den Niederlanden setzt man auf Risikomanagement, um Beeinträchtigungen des Patienten zu vermeiden, investiert in interdisziplinäre Zusammenarbeit und integriert den Patienten in den Behandlungsprozess. Darüber hinaus entwickelt sich die interne Gestaltung in Richtung «Hotelbetrieb». Spitäler in Japan orientieren sich stärker an individuellen Hygieneanforderungen und der Würde des Patienten, die er dann behält, wenn seine Intimsphäre gewahrt bleibt und er die Autonomie behält, beispielsweise Wärme, Sonneneinstrahlung oder Luftzufuhr selbst zu regulieren. Den individuellen Besonderheiten des Patienten und den persönlichen Erwartungen im Hinblick auf eine menschenwürdige Behandlung wird konsequent Rechnung getragen.
Grundrissform in Form eines Kleeblattes
In Dortmund sind aktuell – unter der Leitung von Professor Dr. Hans-Jörg Assion und Professor Dr. Jens Bothe – zwei neue LWL-Klinikgebäude entstanden, die Massstäbe in Bezug auf die Interaktion zwischen Patient und Gebäude setzen. Darin hat die Architektin und Spezialistin für Healing Environments und Farbgestaltung Jeanet Marit Herbst eine ganz besondere Atmosphäre geschaffen, die bei der Stress-Bewältigung unterstützt und Selbstheilungskräfte aktiviert. Die Folgen: Bessere Regeneration und weniger Schmerzen aufseiten der Patienten sowie nachhaltige Einsparungen für die Kliniken. Das Besondere in Dortmund sind konzeptionell durchdachte und an ein Kleeblatt erinnernde Grundrissformen. Die vier «Blätter» verfügen jeweils über ein geräumiges und begrüntes Atrium, um das sich auf jeder Etage eine psychologische Spezialabteilung fügt. Alle Patientenzimmer verlaufen in einem kontinuierlichen Ring entlang der Aussenkontur des Gebäudes und gestatten durchgehend freien Blick in die Natur des umgebenden Parks. Diese gelungene architektonische Struktur wurde nun zur Bühne für die gestalterische Arbeit von Jeanet Marit Herbst. «Durch eine Reihe von Studien im In- und Ausland kann belegt werden, dass Patienten, Ärzte und Pflegepersonal von Healing Environments profitieren», so Jeanet Marit Herbst. Das Konzept reduziert Stress, der bei Patienten durch belastende Situationen, wie Angst vor medizinischer Untersuchung und Krankheit, oder das ungewohnte Umfeld verursacht wird. Aber auch auf der Personalseite wirkt das Konzept Stress entgegen und sorgt für deutlich weniger krankheitsbedingte Ausfälle. Mein Healing-Environments-Konzept basiert auf einer natürlichen Farbgestaltung. Das für jedes Haus entwickelte Farbkonzept vermittelt eine Atmosphäre, die an ‹zu Hause› erinnert, ohne dabei in irgendeiner Weise bunt und effekthascherisch oder verwirrend zu sein», erläutert Herbst. «Sehr oft wird Farbe nur als Signalfarbe oder als Leitelement verwendet. Demgegenüber setzte ich spezielle Naturfarben und Materialien sowie natürliche und künstliche Lichtquellen ganz gezielt ein, um Wohlgefühl, Vertrauen und Ruhe zu erzeugen.» Wie weitreichend ihre Arbeit in den zu gestaltenden Raum eingreift, zeigen auch die von Jeanet Marit Herbst sorgfältig ausgewählten Pflanzenfarb-Töne der neu angelegten Aussenanlagen und Innenhöfe.
Farben und Licht erzeugen Wohlgefühl, Vertrauen und Ruhe
Die Erfahrung bei der Behandlung von Patienten hat immer wieder gezeigt, dass Farben einen wesentlichen Einfluss auf den Genesungsprozess haben. Farbe steuert unsere Energie, und unser Körper reagiert auf sie: Blutdruck, Herzfrequenz und Körpertemperatur verändern sich. Oft werden aber aus Unkenntnis Farben falsch eingesetzt, was dann zu unerwünschten Wirkungen führt. Ganz bewusst setzt Herbst bei ihrem Konzept auf feine Abstufungen der eingesetzten Farbtöne, um ganz im Sinne von Paul Cézannes «Modulation der Farbe» in der Malerei eine verstärkte Darstellung der Raumdimension oder eine Raumillusion zu erzeugen. «Farbtöne» schreibt Herbst mit einem Bindestrich: Zum Beispiel «Blau-Töne». Ihr ist die Klangfarbe genauso wichtig wie die sichtbare Abstufung der eigentlichen Farbe. Denn ihr Bestreben ist es, Farbtöne und Klangfarben, wie der Maler in der Kunst und, wie der Komponist in der Musik, einzusetzen. Farbe ist Musik, Musik ist Farbe. Healing Environments mit Farbgestaltung sorgt sozusagen für die Verbindung von Malerei und Musik in der Innenarchitektur. Eine Verbindung, die, die Gefühle der Menschen sehr positiv anspricht. Die LWL-Kliniken in Dortmund sind nun zu einem weiteren anschaulichen Beispiel herangereift, das Herbsts besonderes Gespür für Farben und das Wissen um deren Wirkung eindrucksvoll aufzeigt.
«Healing Environments bezieht sich auf das Milieu»
Interview mit Jeanet Marit Herbst, Architektin und Spezialistin für Healing Environments und Farbgestaltung
Frau Herbst, wie ist das Healing-Environments-Konzept entstanden?
Jeanet Marit Herbst Ausgangspunkt war zum einen die empirische Erkenntnis, dass ein Patient im Verlauf eines Spitalaufenthaltes zahlreichen gefährdenden Risiken ausgesetzt ist, die vermieden werden könnten: 128 000 jährliche Wundinfektionen in deutschen Spitälern bewirken längere Aufenthalte, Unannehmlichkeiten sowie kostenintensive Nachbehandlungen; 44 000 bis 98 000 Todesfälle gehen in US-Spitälern auf Nebenwirkungen zurück. Oder denken Sie an Patientenstürze, unerkannte Dehydrierung und unkontrollierte Medikamentenaufnahme, die Komplikationen und Nachbehandlungen auslösen. Neue Ansätze zu finden, um Störquellen für die Genesung zu reduzieren, lag daher auf der Hand.
Und zum anderen?
Zum anderen basiert Healing Environments auf der Beobachtung, dass Diagnose- und Therapieprozesse aus Kostengründen oft ungenügend organisiert sind. «Fast Track Surundgery» ist noch die Ausnahme. In besonderer Weise trifft der Milieuansatz übrigens auf die Gestaltung von Notaufnahmebereichen zu.
Warum das?
In diesen Akutversorgungszonen sollte sehr darauf geachtet werden, dass dem Patienten und seinen Angehörigen Ängste erspart bleiben, was insbesondere bei Kindern und Jugendlichen wichtig ist. Darüber hinaus prägt der erste Eindruck eines Notaufnahmebereichs das Meinungsbild über das Spital insgesamt. Und zwar nachhaltig. Healing Environments bezieht sich auf das Milieu. Denken sie an baulich-funktionale Bedingungen, wie beispielsweise Toilettenanlagen, Mehrbettzimmer und Behandlungsabläufe, aber auch an Farben und Formen der Ausstattung, Geräusche und Gerüche, Kommunikation und Verhalten des Personals. Alle diese Faktoren bewirken negative Einflüsse auf die Befindlichkeit, den Immunstatus und die Achtung des Patienten. Healing Environments geht davon aus, dass in den meisten Spitälern eine Situation anzutreffen ist, durch die Patienten unnötig gefährdet werden, sich deren Verweildauer unnötig verlängert und durch die sich das Patienten-Outcome verschlechtert, weil Gefühle wie Angst, Peinlichkeit, Ausgeliefertsein und physische Zustände wie Abgeschlagenheit und Obstipation entstehen.
Sind denn die aus diesen Erkenntnissen abgeleiteten Konzepte allgemeingültig?
Eindeutig nein. Healing-Environments-Konzepte müssen sich immer auf das Umfeld des jeweiligen Spitals, die Psychiatrie oder das Pflegeheim, die Architektur, die Innenarchitektur, das medizinische Angebot und die Mentalität der Menschen aus der Region beziehen. Ich vernachlässige auch nie die Integration der Corporate Identity in das Gesamtkonzept. Nur so kann im Zusammenspiel aller Faktoren ein Alleinstellungsmerkmal herausgearbeitet werden.
Wie muss man sich die Einbettung Ihrer Arbeit vorstellen?
In der Regel entwickle ich auf Investoren- oder Bauträgerseite erste Konzepte. Im weiteren Verlauf intensiviert sich die Zusammenarbeit mit beteiligten Hochbau-, Innen- und Landschaftsarchitekten. Man kann sich meine Funktion als Kombination der klassischen Planer- mit einer modernen Vermittlerrolle vorstellen, die stets die ganzheitliche Konzeption vor Augen hat, um letztlich die gewünschten Effekte auch wirklich zu implementieren.