In einem kleinen Vorort von Amsterdam war ursprünglich auf einem Areal von etwa 15 000 Quadratmetern ein «ganz normales» Pflegeheim mit mehreren Stockwerken, Zimmern und Gängen geplant. Jetzt steht dort zwischen den Hochhäusern das berühmteste Demenzdorf der Welt mit 165 Wohneinheiten.
Das Konzept: Strassen, ein Boulevard, ein Restaurant, ein Theater, ein Laden, Bars, Plätze, Gärten und kleine Häuser ohne sichtbare Grenzen und Zäune. Das Leben soll wie daheim sein: Ein privates Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, das Bad geteilt mit «der Familie».
Das Konzept ebnete den Weg für eine neue Art der Pflege in den Niederlanden und ist zu einer grossen Inspiration für alle diejenigen geworden, die nach menschlicher Pflege für die wachsende Zahl von Demenzkranken suchen. Ziel ist es, die Pflege zu deinstitutionalisieren, Menschen mit Demenz zu emanzipieren und sie in die Gesellschaft einzubinden.
Frank van Dillen, der Architekt, ist inzwischen als Berater in vielen Ländern tätig und entwickelt international weitere Demenzdörfer. Sein Rat: «Transformieren Sie Ihre Organisation vor dem Bau. Was steht an erster Stelle und welche Paradigmenwechsel müssen vollzogen werden?» Er empfiehlt eine holistische Herangehensweise: die «Software» und die «Hardware» zusammen zu entwickeln.
Das Juradorf
Die beeindruckende Atmosphäre von De Hogeweyk hat den damaligen Direktor des sanierungsbedürftigen Oberaargauischen Pflegeheims Wiedlisbach derart beeindruckt, dass 2011 die Idee des ersten Schweizer Demenzdorfes geboren war. Noch 12 Jahre dauerte es bis das Juradorf im April 2022 eröffnet wurde.
Auch im Juradorf gibt es keine sichtbare Begrenzung, ausser einem Einfahrtstor mit Rezeption. Es enthält viele Elemente eines normalen Dorfs: einen zentralen Dorfplatz mit Brunnen, einen Flaniergarten mit Obstbäumen, drei Wohnhäuser, einen kleinen Laden sowie ein Verwaltungsgebäude mit einem Kultursaal. Die meisten Wege verlaufen kreisförmig ohne Sackgassen. Ebenso die Gänge der Wohnhäuser. Die Türen der Wohnheime sind tagsüber offen. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sich im Dorf frei bewegen, ohne dass ihre Sicherheit gefährdet ist. Zurzeit leben 94 Menschen in zehn Wohngruppen im Juradorf, das von der Institution Dahlia Oberaargau betrieben wird. In den Zimmern gibt es keine Lavabos oder WCs. Ganz so wie in einer Privatwohnung, wo sich das Bad vielleicht neben, nicht aber im Schlafzimmer befindet.
Karin Moser, Geschäftsleiterin des Juradorfs, hat die Erfahrung gemacht, dass seit dem Umzug ins Juradorf sowohl der Medikamentenverbrauch als auch die Aggressivität zurückgegangen sind. Die Zusammenarbeit zwischen dem Personal untereinander und mit den Angehörigen hat sich deutlich verbessert.
Auf dem Areal, mitten in der Siedlung, befindet sich (noch) ein grosses Hochhaus. Es war früher ein herkömmliches Pflegeheim. Im nächsten Bauabschnitt wird das Hochhaus teilweise zurückgebaut. Es wird in Zukunft Wohngruppen und Restaurant und Coiffeur enthalten und damit die Gestaltung des Dorfplatzes abschliessen. Danach (2026) beginnt die dritte Bauetappe für ein weiteres Haus mit Wohneinheiten.
Der Lindenpark
Der Lindenpark in Balsthal, nur knapp 10 Kilometer entfernt, wurde nur wenige Monate später, im August 2023, eröffnet. Auch der Lindenpark hatte De Hogeweyk als Vorbild. Auf dem 10 000 Quadratmeter grossen Areal bieten zehn Wohngruppen Platz für je sechs bis sieben Personen. Alle verfügen über eine Küche und ein Wohn- und Esszimmer.
Das «Normalitätsprinzip» ist hier ebenfalls die Basis. Lange Gänge, wie in den ursprünglichen Gebäuden, sind in einer Privatwohnung nicht normal. Die logische Konsequenz nach dem Normalitätsprinzip: Sie wurden abgeschafft. WC und Waschbecken im eigenen Zimmer? Im eigenen Heim ebenfalls nicht normal. Also abgeschafft? In diesem Fall nicht. Bei einer durchschnittlichen Pflegestufe acht bis neun wurden hier die erleichterten Reinigungsprozesse durch die Nähe zu Waschgelegenheiten priorisiert.
Interessant im Lindenpark sind die multifunktionalen Zimmer. Schiebetüren als Verbindung zwischen zwei Zimmern erhöht nicht nur die Flexibilität zum jetzigen Zeitpunkt, sondern erlaubt in Zukunft bei Bedarf weitere Nutzungsalternativen.
«Laufen lassen» ist ein häufig genutzter Satz von Gina Kunst, der Vorsitzenden der Geschäftsleitung. Im Lindenpark wird nur eingegriffen, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt. Jeder darf nach seinen Gewohnheiten zu einem frei wählbaren Zeitpunkt aufstehen und frühstücken. Wer Lust hat, darf mithelfen. Jede Gruppe isst mittags zusammen, und in der Wohnstube wird gemeinsam der Alltag gelebt. Und es gibt keinen Einkaufsladen. Die Pflegekräfte gehen mit den Bewohnerinnen einfach über die Strasse in den echten Coop oder Migros.
Unterschiede und weitere Entwicklungsmöglichkeiten
Eine Besonderheit von De Hogeweyk gibt es in keinem der Schweizer Demenzdörfer: Während De Hogeweyk in verschiedene «Viertel» aufgeteilt wird, die die verschiedenen Lebensstile repräsentieren (urban, häuslich, kosmopolitisch, indonesisch etc.), sind in der Schweiz alle Häuser (Wohngruppen) gleich ausgestattet.
In der Schweiz gibt es in den Pflegeheimen generell noch überwiegend Uniformen für die Pflegekräfte. In De Hogeweyk und auch im Lindenpark arbeiten die Pflegekräfte in Privatkleidung. Dies trägt sehr zu einer Atmosphäre der Normalität bei.
Die Erkenntnisse bezüglich Demenz wachsen, und damit sollte sich auch das Konzept der Demenzdörfer weiterentwickeln. In den Niederlanden wird über eine weitere Öffnung der Demenzdörfer nachgedacht. Auch eine stärkere Integration von Personen mit demenzieller Erkrankung ist in der Diskussion. Die Atmosphäre eines Demenzdorfes zu erleben, ist essenziell, um zu verstehen, welches Potenzial in diesem Konzept liegt.