Die Apotheken spielen im Schweizer Gesundheitswesen eine wichtige, aber oft wenig beachtete Rolle. Als wohnortsnahe Anlaufstellen für Gesundheitsfragen entlasten sie Arztpraxen und Notfallstationen – und bieten Patientinnen und Patienten unkomplizierte, qualifizierte Unterstützung. Im Gespräch mit Innovation Healthcare erklärt Martine Ruggli, Präsidentin des Schweizerischen Apothekerverbands Pharmasuisse, welche Leistungen Apotheken bereits heute erbringen und wie sie künftig noch stärker zur Gesundheitsversorgung beitragen können.
Engagement mit Wirkung
Innovation Healthcare: Frau Ruggli, Sie sind seit 2021 Präsidentin von Pharmasuisse. Was hat Sie persönlich motiviert, sich so stark für die Apothekerschaft einzusetzen?
Martine Ruggli Ich bin Apothekerin und hatte das Glück, in ganz unterschiedlichen Bereichen unseres Berufs zu arbeiten. Dabei habe ich gesehen, was Apotheken alles leisten können. Leider ist vielen Menschen nicht bewusst, dass wir Medizinalpersonen mit universitärer Ausbildung und umfassender Weiterbildung sind. Viele sehen uns vor allem als Fachhändler. Dabei können wir weit mehr zur Gesundheitsversorgung beitragen. Es ist mir ein Anliegen, diese Leistungen sichtbar zu machen und mich politisch wie interprofessionell dafür zu engagieren, dass Apotheken im System besser eingebunden werden. Denn wir sehen täglich 300 000 Menschen in unseren Betrieben. Das entspricht rund einer Person pro 30 Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz – und zeigt, wie nah wir an der Bevölkerung sind.
Welche Vision verfolgen Sie für die Rolle der Apotheken im Schweizer Gesundheitssystem?
Unsere Vision ist die Transformation der Apotheke: Sie bleibt Fachhändlerin für Medikamente – aber sie wird zugleich viel stärker als das anerkannt, was sie ist: eine medizinische Grundversorgerin. Das bedeutet, wir leisten Triage, Erstversorgung, Beratung und Unterstützung bei chronischen Erkrankungen, zunehmend auch im engen Zusammenspiel mit anderen Leistungserbringern.
Erste Anlaufstelle mit medizinischer Kompetenz
Apotheken als erste Anlaufstelle – ist das in der Praxis bereits gelebte Realität?
In vielen Apotheken ja. Die Menschen schätzen das niederschwellige Angebot. Eltern, die bei uns Rat suchen, weil ihr Kind hingefallen ist, oder Menschen, die sich beraten und impfen lassen wollen – all das geschieht tagtäglich. Besonders in Zeiten von Hausarztmangel und überlasteten Notfallstationen wird diese Rolle wichtiger. Wir können schnell, kompetent und empathisch helfen. Wichtig ist: Apothekerinnen und Apotheker haben die Kompetenz zur Triage – also zur Beurteilung, was wir selbst behandeln können und wann eine Weiterleitung zur Ärztin, zum Notfall oder zur Telemedizin nötig ist.
Wie können Apotheken konkret zur Entlastung des Gesundheitssystems beitragen?
Ein zentraler Punkt ist die Triage. Viele einfache Fälle lassen sich direkt in der Apotheke behandeln. Das spart Kosten und entlastet Ärztinnen und Ärzte. Auch in der Prävention leisten wir viel: von Impfkampagnen über Lifestyleberatung bis hin zu Screening-Angeboten. Zudem können wir chronisch kranke Menschen unterstützen – etwa bei der korrekten Medikamenteneinnahme, der Therapieoptimierung oder der Medikationsanalyse. Studien zeigen, dass hier enormes Einsparpotenzial liegt. Laut Pharmasuisse könnten durch den konsequenten Einsatz von Apotheken jährlich rund 200 Millionen Franken eingespart werden [1]. Bis jetzt sind solche Leistungen nicht abgegolten und werden deswegen nur selten gemacht. Aber mit der im März beschlossenen Gesetzesrevision ist die Grundlage gelegt, dies in Zukunft zu ändern.
Projekte für Prävention und Therapietreue Welche Projekte verfolgt Pharmasuisse aktuell in diesem Bereich?
Wir starten derzeit ein Projekt für Menschen mit Bluthochdruck, in dem die Apotheke Screening, Beratung und Begleitung übernimmt, in enger Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten. Ein weiteres Projekt namens «myCare Start» richtet sich an Patientinnen und Patienten, die neu eine Dauermedikation erhalten. Hier führt das Apothekenteam Gespräche zur Therapieadhärenz, zu Nebenwirkungen und zum besseren Verständnis der Erkrankung. Ziel ist es, Unterversorgung, Fehlanwendung oder Therapieabbrüche zu vermeiden. Auch Medikationsanalysen, etwa in Altersheimen, gehören dazu. Dabei steht immer die Zusammenarbeit mit Ärztinnen, Ärzten und Pflege im Zentrum.
Gibt es weitere Herausforderungen, denen sich die Apotheken stellen müssen?
Unbedingt. Fachkräftemangel betrifft auch uns. Dazu kommt die mangelnde digitale Vernetzung, die die interprofessionelle Zusammenarbeit erschwert. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen es Kantone gibt, in denen Ärzte selbst Medikamente abgeben dürfen. Dadurch fehlen im Alltag oft die Schnittstellen zur Apotheke – und das Verständnis füreinander. Dabei könnten wir gemeinsam sehr viel effizienter arbeiten.
Digital, vernetzt und datensicher
Welches Potenzial sehen Sie für die digitale Weiterentwicklung?
Sehr viel. Aber wir brauchen endlich verbindliche Standards und die Möglichkeit zur sicheren digitalen Zusammenarbeit. In der Praxis arbeiten alle mit eigenen Systemen, die nicht kompatibel sind. Gemeinsam mit der Ärzteschaft haben wir das Projekt eRezept Schweiz lanciert, das genau hier ansetzt. Wichtig ist uns dabei: keine unnötige Zentralisierung und maximaler Datenschutz. Wir wollen digitale Lösungen, die den Austausch fördern und gleichzeitig die Autonomie der Beteiligten schützen.
Wo sehen Sie regulatorischen Handlungsbedarf?
Wenn wir Apotheken als aktive Partner in der Grundversorgung stärken wollen, braucht es passende Rahmenbedingungen. Dazu gehören eine faire Abgeltung für interprofessionelle Leistungen, sinnvolle Tarife für neue Angebote und eine verlässliche digitale Infrastruktur. Ebenso wichtig ist, dass im Gesetz stärkere Anreize für eine koordinierte, effiziente Versorgung gesetzt werden – denn heute fliessen Ressourcen nicht immer dorthin, wo sie den grössten Nutzen bringen. Mit der kürzlich verabschiedeten KVG-Revision hat das Parlament bereits wichtige Schritte gemacht, unter anderem zur Förderung von Leistungen der Grundversorgung in Apotheken. Pharmasuisse setzt sich nun dafür ein, dass diese Massnahmen zügig umgesetzt und ergänzt werden [2]. Aus unserer Sicht braucht es zudem nicht nur ein Krankenversicherungsgesetz, sondern perspektivisch auch ein Gesundheitsgesetz, das Prävention, Früherkennung und Gesundheitskompetenz stärker verankert. Denn wer länger gesund bleibt, entlastet das System nachhaltig.
Versorgung sichern, Engpässe verhindern
Ein Dauerthema sind Lieferengpässe. Wie gehen Apotheken damit um?
Die Situation ist angespannt und wird es bleiben, solange wir bei den Wirkstoffen von wenigen asiatischen Herstellern abhängig sind. Hier wäre eine bessere internationale Zusammenarbeit wünschenswert. Wir Apotheken versuchen immer, eine Lösung für die Patientinnen und Patienten zu suchen: durch Ersatzpräparate, Import oder im Extremfall durch individuelle Herstellung. Pharmasuisse unterstützt daher aktiv die Versorgungssicherheits-Initiative. Wichtig wäre zudem, die Herstellung von essenziellen Medikamenten wieder auf mehrere Standorte weltweit zu verteilen – auch in Europa.
Blick nach vorn Abschliessend: Was wünschen Sie sich für die Apotheke der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Apotheke als medizinischer Grundversorger auf Augenhöhe wahrgenommen und eingebunden wird. Dass wir unsere Kompetenzen einbringen können, um Menschen zu helfen – effizient, empathisch und vernetzt. Und dass das System die Anreize schafft, um diese Rolle auch nachhaltig auszufüllen.
Quellen
[1] Pharmasuisse. (2025). Rolle der Apotheken in der medizinischen Grundversorgung. Abgerufen am 5. Mai 2025, von pharmasuisse.org/de/politik-und-medien/dossiers/rolle-der-apotheken
[2] Pharmasuisse. (2025, 21. März). Apotheken stärken: Parlament verabschiedet wegweisende KVG-Revision. Abgerufen am 5. Mai 2025, von pharmasuisse.org/de/medienmitteilung/apotheken-staerkenparlament-verabschiedet-wegweisende-kvg-revision