Im Interview spricht Widmer über die Herausforderungen seines ersten Amtsjahres, die Bedeutung der Selbstfürsorge und die Pläne für die Zukunft der Klinik.
Innovation Healthcare: Herr Widmer, Sie sind seit fast einem Jahr Direktor der Clinica Holistica Engiadina. Was waren in diesem Jahr Ihre grössten Herausforderungen, und welche Meilensteine konnten Sie und Ihr Team bereits erreichen?
Philippe Widmer: Ein Jahr ist nur ein Anfang, wenn man etwas Dauerhaftes aufbauen möchte. In fünf Jahren wird man beurteilen müssen, was wir heute auf die Beine stellen. Neben den neu angestossenen Projekten ist es dabei für uns selbstverständlich, dass wir stets ein hohes Qualitätsniveau bei der Behandlung der Patientinnen und Patienten sicherstellen. Gleichzeitig müssen wir ein Ergebnis erzielen, das es uns ermöglicht, in eine Klinik zu investieren, die mit weniger als 15 Jahren zwar noch jung ist, deren Gebäude aber zu einem grossen Teil schon relativ alt sind.
Vor eine grosse Herausforderung hat uns in den zurückliegenden Monaten der Mangel an Therapeuten gestellt. Als besonders schwierig hat sich dabei die Suche nach Psychiaterinnen und Psychiatern sowie Psychologinnen und Psychologen erwiesen, die in Psychotherapie ausgebildet sind. In Zusammenhang mit dieser Herausforderung sowie deren erfolgreicher Bewältigung konnten wir jedoch auch einen grossen Meilenstein erreichen. Denn unsere Klinik ist auf gutem Wege, die Anerkennung als Weiterbildungsstätte der Kategorie C zu erhalten. Diese wird uns die Möglichkeit geben, künftig junge Ärztinnen und Ärzte in Psychiatrie auszubilden.
Gab es Projekte oder Entwicklungen, die besonders herausgestochen haben und die Sie als Meilensteine für die Klinik bezeichnen würden?
Als ich meine Stelle bei der Clinica Holistica angetreten habe, konnte das Team mehrere Psychotherapeuten rekrutieren, sodass wir in kurzer Zeit bis zu 56 Patienten für einen sechswöchigen Aufenthalt behandeln konnten. Das war in der Vergangenheit noch nie der Fall gewesen. Trotz einiger anfänglichen Bedenken bezüglich der hohen Zahl an Patienten funktionierte die Betreuung mit den vorhandenen Ressourcen sehr gut. Und das sowohl was die Therapien als auch was die Hotellerie betrifft.
Sie haben zuvor in Führungspositionen in der pharmazeutischen und pflegerischen Branche gearbeitet. Inwiefern hat Sie diese Erfahrung auf Ihre jetzige Rolle in einer spezialisierten Fachklinik vorbereitet?
Ein Grossteil der Managementkompetenzen ist von einem Bereich auf einen anderen übertragbar, sofern man ein wenig Zeit investiert, um bestimmte Branchenspezifika zu verstehen. Meiner Meinung nach ist das grundlegende Element, das beide Branchen voneinander unterscheidet, das menschliche Element. Während meiner Tätigkeit im Pharmabereich habe ich Menschen mit einer starken Leistungsorientierung geführt. Heute führe ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die viel stärker sozial orientiert sind. Das ist eine neue Erfahrung, die mir grosse Freude bereitet.
Die Clinica Holistica Engiadina ist die einzige Klinik in der Schweiz, die sich ausschliesslich auf Stressfolgeerkrankungen spezialisiert hat. Was zeichnet Ihre Therapieansätze besonders aus?
Grundlegend für den Therapieerfolg ist die Stärkung der Fähigkeit zur Selbstfürsorge. Interdisziplinär unterstützen wir unsere Patientinnen und Patienten in ihrem Prozess von Erkenntnis, selbstbestimmter Veränderung und Weiterentwicklung. Der ganzheitliche Therapieansatz beruht auf den folgenden fünf Säulen:
❱ Distanzierung von den Belastungsfaktoren und Akzeptanz der persönlichen Krisensituation
❱ Entspannung und Stärkung der körperlichen Ressourcen, Wiederherstellung der Belastbarkeit
❱ Bearbeitung der Konflikt- und Belastungsfaktoren; Fähigkeit, die eigenen Herausforderungen selbstständig zu bewältigen
❱ Sinn- und Wertefindung, Selbstfürsorge stärken
❱ Einbezug des Umfelds, z. B. Partner, Familienmitglied oder Arbeitgeber zur Vorbereitung des Austritts
Ausserdem ermöglicht die Grösse unserer Klinik eine sehr gute interdisziplinäre Arbeit. Beispielsweise treffen sich alle Therapeuten einmal am Tag, um sich auszutauschen. Dies wäre in einer grösseren Klinik nicht möglich.
Welche Therapieformen haben sich als besonders effektiv erwiesen, und wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?
Die Psychotherapie steht im Mittelpunkt der Behandlung von Patientinnen und Patienten. Sie wird ergänzt durch ein breites Spektrum an Kunst- und Sporttherapien oder anderen Therapien wie Akupunktur oder das WasserShiatsu sowie die Erfahrung mit verschiedenen Entspannungsmethoden. Natürlich sind wir auch immer offen für neue Therapieformen und haben zum Beispiel mit dem therapeutischen Bogenschiessen begonnen.
Sie setzen auf eine Kombination aus Psychotherapie, Kunsttherapie und Sport. Welche dieser Therapien ergänzen sich Ihrer Meinung nach besonders gut?
Wir Menschen sind komplexe Organismen, und jeder Mensch ist anders. Es gibt keine Regel, die auf eine Gruppe von Patienten angewendet werden kann. Es geht vielmehr darum, eine breite Palette an Therapien anzubieten, um Geist und Körper auf viele verschiedene Arten anzusprechen. Die Patientinnen und Patienten reagieren individuell auf diese Therapien. So kann eine Therapieform bei einem Patienten grossen Anklang finden, bei einem anderen hingegen weit weniger.
Ist Burnout offiziell als Krankheit anerkannt, und wie wird es von der Clinica Holistica Engiadina eingeordnet?
Burnout wird in der ICD, der offiziellen Klassifikation der WHO, erwähnt. Zwar wird es als Syndrom oder arbeitsbedingtes Phänomen und nicht als eigenständige Krankheit erwähnt. Dennoch ist das Burnout-Syndrom in der medizinischen Fachwelt etabliert und anerkannt. Es ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Artikel in der medizinischen Fachliteratur und von Büchern. Zu Letzteren zählt unter anderem eines, das 2020 vom Chefarzt der Clinica Holistica veröffentlicht wurde «Positive Psychotherapie bei Erschöpfungsdepression und Burnout». Aus technischer Sicht wird das Burnout-Syndrom im Katalog für die Kodierung in Spitälern den Depressionen zugeordnet, was voraussetzt, dass die Kosten für die Behandlung des Burnout-Syndroms der Behandlung einer Depression ähneln. Das Burnout-Syndrom wird auch von den Versicherern akzeptiert, die die ambulanten oder stationären Kosten übernehmen, wenn die ambulante Behandlung nicht ausreichend ist.
Wie definieren Sie Burnout, und was unterscheidet es von anderen Stressfolgeerkrankungen?
Burnout ist durch drei Kardinalsymptome gekennzeichnet, nämlich Gefühle von Energiemangel oder Erschöpfung, eine zunehmende mentale Distanz zur Arbeit oder Gefühle von Negativismus oder Zynismus in Bezug auf die Arbeit und eine reduzierte Leistungsfähigkeit. In der Praxis geht der Erschöpfungszustand beim Burnout fast immer mit einer Erschöpfungsdepression einher. Burnout steht im Zusammenhang mit der Arbeit, insbesondere mit einer chronischen Stresssituation, während andere stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen vielfältigere Ursachen haben können. Interessanterweise wird das Wort Burnout allmählich auch für Stresszustände verwendet, die nicht mit der Arbeit zusammenhängen: Man spricht zum Beispiel von elterlichem Stress. In unserer täglichen Praxis ist jedoch die überwiegende Mehrheit der Fälle mit der Arbeitssituation verbunden.
Welche Faktoren führen Ihrer Erfahrung nach am häufigsten zu Burnout, und welche Präventionsstrategien empfiehlt die Klinik?
Es gibt intrinsische Risikofaktoren, wie zum Beispiel eine ausgeprägte Leistungsorientierung, Perfektionismus und eine geringe Fähigkeit zur Distanzierung, sowie extrinsische Faktoren, wie chronischer Stress, Arbeitsdruck oder mangelnde Erholung. Dies sind nur einige Beispiele. Durch die Therapien, die wir unseren Patientinnen und Patienten anbieten, insbesondere durch Psychotherapie und die Erfahrung mit verschiedenen Entspannungsmethoden, möchten wir sie besser für den Umgang mit Stresssituationen rüsten, mit denen sie nach dem Klinikaufenthalt unweigerlich konfrontiert sein werden. Dies reicht von der Selbsterkenntnis über das Erkennen und Vermeiden bestimmter Stresssituationen bis hin zur regelmässigen Anwendung einer Entspannungsmethode.
Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel erhöhen den Druck auf viele Arbeitskräfte. Wie stark schätzen Sie das Risiko, dass dadurch die Gefahr von Burnout ansteigt?
Man kann berechtigterweise annehmen, dass die von Ihnen genannten Entwicklungen zu einer höheren Prävalenz von Burnout beitragen werden. Wiederum werden neue Generationen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vielleicht auch eine Resilienz entwickeln, die wir heute noch nicht haben. Zudem sollten Bewusstseinsbildung, Entstigmatisierung und Prävention dazu beitragen, den Anstieg von Burnout zu bremsen.
Welche Rolle spielen Unternehmen Ihrer Meinung nach, um die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu schützen, und welche Massnahmen könnten präventiv gegen Burnout wirken?
Vielleicht müssen wir den Kult der Gewinnmaximierung zugunsten einer Philosophie des vernünftigen Gewinns und der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen tauschen? Schwierig und komplex, das wird Zeit brauchen...
Pragmatischer betrachtet könnten Informationen über Symptome, Risikofaktoren und Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen des Unternehmens dazu beitragen, heikle Situationen schneller zu erkennen und so den Betroffenen früher Hilfe anzubieten.
Was sollte auf gesellschaftlicher und politischer Ebene geschehen, um die Volksgesundheit langfristig zu fördern und mentalen Erkrankungen vorzubeugen?
Das ist eine Frage, die viele Teilaspekte umfasst. Wenn ich sie so auf die Schnelle beantworten könnte, hätte ich eine glänzende Karriere in der Gesundheitspolitik gemacht.
Welche Projekte oder Erweiterungen haben Sie für die kommende Zeit geplant, und wo möchten Sie langfristig Schwerpunkte setzen?
Kurzfristig wollen wir unsere Türen für die Ausbildung von Assistenzärzten in der Psychiatrie öffnen und neue Wege bei der Rekrutierung von Therapeuten verfolgen. Längerfristig spielen wir mit dem Gedanken, in Zusammenarbeit mit den Kostenträgern – Kanton und Versicherer – eine klinische Studie zur Längsbeobachtung unserer Patientinnen und Patienten durchzuführen. In diesem Rahmen würden wir Patientinnen und Patienten über einen längeren Zeitraum hinweg beobachten, um die Qualität unseres therapeutischen Konzepts und seinen Wert für die Gesellschaft besser messen zu können.
Sehen Sie Veränderungen oder Trends, die die Therapie von Stressfolgeerkrankungen in naher Zukunft beeinflussen werden?
Es wäre wünschenswert, den administrativen Aufwand für Therapeuten zu verringern. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in naher Zukunft dazu beitragen könnte, mehr Zeit für die Patienten zu schaffen. Zudem halte ich es angesichts der atemberaubenden Entwicklung dieser Technologie für möglich, dass die künstliche Intelligenz längerfristig eine grössere Rolle spielen wird, zum Beispiel um den Mangel an Therapeuten zu beheben.