Die Schweiz stellt zurecht den Anspruch, eines der besten Gesundheitssystem der Welt zu haben. Mit dem Zugang zu innovativen Medikamenten steht es jedoch nicht zum Besten. Es bestehen teils lange Wartefristen und die Vergütung ist nicht immer gesichert. Patientinnen und Patienten geraten oftmals – zusammen mit ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten – in schwierige Situationen. Der Zulassungs- und Vergütungsprozess stellt für die pharmazeutische Industrie eine zunehmend grössere Hürde dar.
Dies bestätigt die aktuelle «EFPIA Patients W.A.I.T. Indicator»-Studie des Marktforschungsinstituts IQVIA, die grösste europäische Studie zur Verfügbarkeit innovativer Arzneimittel und der Verzögerung beim Patientenzugang. Erstmalig wurde eine detaillierte Schweizer Analyse der Daten anlässlich einer Medienkonferenz präsentiert.
Die Schweiz nur auf Rang 6 beim vollen Zugang zu neuen, innovativen Medikamenten
Die Studie stellt fest, dass von den 167 innovativen Arzneimitteln, die zwischen 2019 und 2022 in Europa zugelassen wurden, nur 48 % für Schweizer Patientinnen und Patienten voll verfügbar sind, also auf die Spezialitätenliste genommen und somit regulär von der Krankenversicherung erstattet werden. Dies ist im europäischen Vergleich Rang 6 – hinter Deutschland, Italien, den Niederlanden, Luxemburg und Österreich. Weitere 22 % der innovativen Arzneimittel sind zwar in der Schweiz zugelassen, jedoch nur im Rahmen der Einzelfallvergütung (Art. 71a-b KVV) verfügbar. Beim Vergleich des vollen Zugangs zu Medikamenten für seltene Krankheiten, sogenannte Orphan-Produkte, fällt die Schweiz sogar auf Rang 9 zurück. Nur 29 % der 63 Orphan-Produkte, die zwischen 2019 und 2022 in Europa zugelassen wurden, sind in der Schweiz voll verfügbar.
Mehr als die Hälfte der Produkte ohne Swissmedic-Zulassung sind Medikamente zur Behandlung von seltenen Krankheiten
Damit ein Medikament in der Schweiz erstattet wird, muss es von Swissmedic zugelassen sein und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Aufnahme in die Spezialitätenliste verfügen. Bereits bei der ersten Hürde, der Schweizer Zulassung, fehlen 30 % der 167 EU-Zulassungen. Diese wurden entweder (noch) nicht von Swissmedic zugelassen oder (noch) nicht von der Herstellerfirma bei der Swissmedic zur Zulassung eingereicht. Mehr als die Hälfte aller (noch) nicht zugelassenen bzw. (noch) nicht bei Swissmedic eingereichten Produkte (57 %) zwischen 2014 und 2022 sind Orphan-Produkte, also Medikamente zur Behandlung von seltenen Krankheiten.
In Deutschland sind 94 % der auch von Swissmedic zugelassenen Produkte voll verfügbar, in der Schweiz sind es lediglich 68 %
Doch selbst von den 117 Produkten, die auch von Swissmedic zugelassenen wurden, sind nur 68 % voll verfügbar in der Schweiz. Deutschland bleibt mit 94 % auch bei diesen Produkten führend. Die besondere Problematik der vollen Verfügbarkeit von Medikamenten für seltene Krankheiten setzt sich auch hier fort: Die volle Verfügbarkeit von Orphan-Produkten liegt bei 45 %.
Florian Saur: «Es ist ungerecht, wenn Menschen in Konstanz sofortigen Zugang zu einer neuen Therapie haben, in Kreuzlingen jedoch nicht.»
Für Florian Saur, Geschäftsführer von AstraZeneca Schweiz, zeigen die Ergebnisse Ungerechtigkeiten auf, die dringend adressiert werden müssen: «Unsere höchste Priorität ist, dass jede Patientin und jeder Patient in der Schweiz die bestmögliche Behandlung bekommt. Innovative Therapien tragen nicht nur zu einem längeren Leben und besserer Lebensqualität bei, sondern können auch die Gesamtkosten des Gesundheitssystems senken und personelle Ressourcen schonen, beispielsweise durch eine Reduktion der Krankenhaustage.»
Saur verweist auf andere Länder wie Deutschland, welche zeigen, dass es möglich sei, Patientinnen und Patienten rasch und kosteneffektiv mit neuen Medikamenten zu behandeln. «Während es in der Schweiz manchmal Jahre dauert bis eine reguläre Erstattung erfolgt, werden in Deutschland neue Arzneimittel ab dem Tag ihrer Zulassung für alle und ohne zusätzliche Einschränkungen erstattet.» Florian Saur betont, dass die Schweiz dies ebenfalls erreichen könne und dass dies im besonderen Interesse von kranken Menschen und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sei. Dazu benötige es jedoch neue Lösungen bei Zulassung und Vergütung. «Es ist ungerecht, wenn Menschen in Konstanz sofortigen Zugang zu einer neuen Therapie haben, in Kreuzlingen jedoch nicht.»
Yvonne Feri: «Es ist essenziell, dass Patientinnen und Patienten direkt und standardmässig in die Prozesse einbezogen werden.»
Yvonne Feri, Präsidentin von ProRaris, dem Dachverband für Patientenorganisationen von Menschen mit einer seltenen Krankheit, verweist als Gastreferentin darauf, dass die Hürden bei der Zulassung und Vergütung von Medikamenten für seltene Krankheiten noch höher seien: «Stellt eine Firma ein Medikament für eine ganz kleine Patientengruppe her, muss sie sich gut überlegen, ob sich der sehr grosse und komplexe Aufwand für eine Schweizer Zulassung wirklich lohnt.» Ausserdem dauere es gerade dort oft Jahre, bis regulär über die Spezialitätenliste vergütet werde – wenn überhaupt.
Es sei zwar positiv, dass es die Ausnahmeregelung der Einzelfallvergütung gebe, jedoch sei das Problem, «dass diese Regelung, die eigentlich eine Ausnahme sein sollte, in den letzten Jahren mehr und mehr zur Regel geworden ist. Ärztinnen und Ärzte müssen vermehrt aufwändige Gesuche bei den Krankenkassen einreichen, was Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige in ständiger Unsicherheit leben lässt.» Lösungen könnten dabei am besten gemeinsam mit den Betroffenen gefunden werden, betont Yvonne Feri. «Es ist essenziell, dass Patientinnen und Patienten direkt und standardmässig in die Prozesse einbezogen werden. Dies dient in letzter Konsequenz allen Beteiligten, weil dadurch die Qualität der zu treffenden Massnahmen steigt.»
René Buholzer: «Es liegen Vorschläge auf dem Tisch, wie Patientinnen und Patienten sofortigen Zugang ab Zulassung ohne Mehrkosten erhalten können. Verwaltung und Politik sind nun gefordert.»
Als weiterer Gastreferent pocht René Buholzer, Geschäftsführer von Interpharma, auf schnelles Handeln der Politik: «Die Schweiz hat ein ernsthaftes Zugangsproblem zu Medikamenten, das sich in den letzten Jahren verschärft hat. Das ist gegenüber Patientinnen und Patienten, die auf einen schnellen und gleichberechtigten Zugang zu zugelassenen Medikamenten angewiesen sind, nicht akzeptabel.»
Weil der Prozess zur Preisfestsetzung und Vergütung beim BAG immer länger dauere und die Rahmenbedingungen sich zunehmend verschlechtern, fehle bei den Herstellerfirmen die nötige Rechts- und Planungssicherheit. René Buholzer weiter: «Die Schweizer Politik hat das Problem bis heute nicht entschieden an die Hand genommen, obwohl konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen. Immerhin hat die nationalrätliche Gesundheitskommission an ihrer letzten Sitzung dem BAG klarere Spielregeln gegeben, damit die Planungssicherheit für Unternehmen nicht noch weiter erodiert. Ermutigend ist auch, dass die Kommission sogenannte Kostenfolgemodelle erst beschliessen will, wenn die Ergebnisse aus der vom BAG geführten Arbeitsgruppe zur Gesamtmodernisierung des Preisbildungssystems für Medikamente vorliegen. Es braucht aber weitere Korrekturen, etwa bei Preismodellen, welche vielfach die einzige Hoffnung für Betroffene und zudem kostendämpfend sind.»