Über Jahrhunderte galt der männliche Körper als medizinische Norm – mit weitreichenden Folgen. Medikamente, Diagnosen und Behandlungsstandards wurden meist an männlichen Tieren und Individuen getestet, entwickelt und validiert. Das führt bis heute dazu, dass Frauen häufiger Fehldiagnosen erhalten oder stärker unter Nebenwirkungen leiden, etwa bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Symptome sich bei ihnen anders zeigen als bei Männern. Doch auch Männer sind betroffen: Krankheiten wie Osteoporose werden bei ihnen oft übersehen oder unterschätzt. Der sogenannte Gender Health Gap beschreibt diese Ungleichheit in Forschung, Versorgung und Wahrnehmung, die beide Geschlechter betrifft.
Wie gross dieser Graben tatsächlich ist, was geschlechtergerechte Medizin in der Praxis bedeutet und warum Patientenzentrierung die Grundlage jeder Präzisionsmedizin bildet, darüber spricht PD Dr. Berna Özdemir, Onkologin am Inselspital Bern. Ein Gespräch über Wissenschaft, Haltung und den Mut, Medizin neu zu denken.
Innovation Healthcare: Frau Dr. Özdemir, Sie haben kürzlich im «Blick» gesagt: «Frauen sind keine Männer mit Brüsten.» Warum war es Ihnen wichtig, das so deutlich zu sagen?
Dr. Berna Özdemir: Ich war ehrlich gesagt etwas überrascht, dass dieser Satz so stark hervorgehoben wurde. Ich wollte damit einfach verdeutlichen, dass Frauen keine Variante des Mannes sind – so wie Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur durch die Fortpflanzungsorgane. Der ganze Körper ist anders reguliert: Hormone beeinflussen Leber, Gehirn, Muskeln, Fettgewebe. Wenn man das ignoriert, versteht man Krankheit und Heilung nur halb.
Was verstehen Sie persönlich unter Gendermedizin – wie würden Sie das Patientinnen und Patienten erklären?
Gendermedizin bedeutet, dass wir das Geschlecht einer Person von der Diagnose bis zur Therapie mitberücksichtigen – biologisch und sozial. Es ist nicht gleichzusetzen mit Frauengesundheit. Das ist ein häufiges Missverständnis, auch unter Fachpersonen. Gendermedizin hilft allen. Sie ist die Grundlage der Präzisionsmedizin, weil sie berücksichtigt, dass wir unterschiedlich krank werden und unterschiedlich auf Therapien reagieren.
Der männliche Körper galt über Jahrhunderte als medizinische Norm. Spüren Sie die Folgen dieser Sichtweise noch heute im Klinikalltag?
Absolut. Dieses Denken zieht sich durch die ganze Medizingeschichte. Schon im Mittelalter wurde der Frauenkörper eher als Abweichung vom Mann betrachtet. Und das setzt sich bis heute fort, zum Beispiel in Tierversuchen, wo man fast ausschliesslich männliche Tiere verwendet, aus der falschen Annahme, der Zyklus der Weibchen würde die Resultate verfälschen. Studien belegen, dass das nicht stimmt. Wir wissen, dass weibliche Tiere keine grössere Variabilität zeigen. Trotzdem wird so geforscht und die Resultate werden dann auf alle übertragen. Das ist ein Fehler, der sich durch viele Gebiete der Grundlagenforschung zieht.
Inwiefern zeigt sich das konkret in Ihrem Kerngebiet, der Onkologie?
Wir wissen, dass Frauen in klinischen Studien deutlich unterrepräsentiert sind. Das gilt auch für Krankheiten, die beide Geschlechter betreffen, etwa Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem wird nicht untersucht, ob ein Medikament bei Frauen und Männern anders wirken könnte, und die Resultate werden nicht getrennt nach Geschlecht berichtet. So wissen wir tatsächlich nicht, wie das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Frauen und Männer getrennt aussieht. Wir behandeln dann alle gleich, obwohl wir wissen, dass Frauen generell häufiger Nebenwirkungen haben.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo sich dieser Gender Health Gap im Alltag zeigt?
In der Onkologie sieht man das gut bei den Therapiedosierungen: Die meisten Chemotherapien werden nach der Körperoberfläche berechnet, dafür werden lediglich die Grösse und das Gewicht gebraucht. Die Unterschiede in der Körperzusammensetzung, d. h. die geringere Muskelmasse bei Frauen, die dazu führt, dass viele Medikamente langsamer abgebaut werden, wird nicht berücksichtigt. Das erklärt, warum Frauen bei gleicher Dosierung viel mehr Nebenwirkungen haben als Männer. Ein anderes Beispiel ist der Harnblasenkrebs. Bei Frauen wird die Krankheit oft zu spät erkannt, weil man die Symptome zuerst als Harnwegsinfektion deutet. Und bei Männern? Da wird Osteoporose häufig übersehen. Männer mit Prostatakrebs erhalten Hormontherapien, die die Knochendichte schwächen, aber das Bewusstsein dafür ist gering. Gendermedizin heisst nicht, Frauen zu bevorzugen – es heisst, die Unterschiede zu erkennen, damit beide Geschlechter besser behandelt werden.
Wie setzen Sie Patientenzentrierung in Ihrer Arbeit konkret um?
Ich versuche zu verstehen, was meinen Patientinnen und Patienten wirklich wichtig ist. Wir Fachpersonen denken oft, dass alle dasselbe Ziel haben – nämlich länger zu leben. Aber manche sagen: «Ich will lieber weniger Nebenwirkungen, auch wenn ich vielleicht etwas kürzer lebe.» Das muss man respektieren. Patientenzentrierung heisst, zuzuhören, bevor man entscheidet – auch wenn wir manchmal die Entscheide von Patientinnen und Patienten nur schwer nachvollziehen können.
Unterscheidet sich die Wahrnehmung von Ursachen zwischen Patientinnen und Ärztinnen?
Wir haben eine Umfrage gemacht, die wir gerade am Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie (ESMO) vorgestellt haben. Menschen ohne Krebs sagten, Krebs werde hauptsächlich durch Genetik, Unwelteinflüsse oder Rauchen verursacht. Menschen mit Krebs nannten als wichtigste Ursache: Stress. Das zeigt, wie unterschiedlich Perspektiven sein können. Es bringt nichts, Patientinnen und Patienten einfach über die wissenschaftliche Theorie der Krebsentstehung zu belehren. Wir müssen verstehen, was sie selbst glauben, und von dort aus erklären.
Welche Rolle spielen neben dem Geschlecht weitere Faktoren – etwa Alter, Herkunft oder Bildung – in der personalisierten Onkologie?
Eine grosse. Wir sprechen hier von Intersektionalität. Eine 35-jährige Mutter mit Beruf und Kindern steht in einer ganz anderen Lebenssituation als ein 80-jähriger Mann im Ruhestand. Das Alter beeinflusst zudem massgeblich Organfunktionen und Körperzusammensetzung, sodass die Dosierung von vielen Medikamenten nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Alter angepasst werden sollte. Herkunft spielt ebenfalls eine grosse Rolle – etwa wie Patientinnen und Patienten über Krankheit sprechen oder was für Ursachen sie dafür verantwortlich machen. Auch der soziale Hintergrund beeinflusst, wie gut jemand seine Krankheit versteht und Therapien umsetzen kann.
Wo stossen Sie dabei an Grenzen?
An erster Stelle: Zeit. Es fehlt schlicht an Zeit, um zuzuhören und Dinge gut zu erklären. Das System ist sehr durchgetaktet. Zweitens: Geld. Viele gute Ideen in der patientenzentrierten Forschung scheitern an der Finanzierung. Und schliesslich: Strukturen. In den Leitlinien spielt das Geschlecht kaum eine Rolle. Wir sollen alle gleich behandeln – aber das ist keine Gleichstellung. Wenn ich Männer und Frauen gleich behandle, wurde am Ende jemand falsch behandelt.
Sie planen eine Studie zur sogenannten Chronotherapie. Worum geht es dabei?
Chronotherapie heisst, die innere Uhr des Körpers zu berücksichtigen. Man weiss schon länger, dass gewisse Chemotherapien morgens oder abends besser wirken oder weniger Nebenwirkungen verursachen. Retrospektive Analysen zeigen, dass auch Immuntherapien durch die innere Uhr des Körpers beeinflusst werden, und zwar bei Frauen und Männern in unterschiedlichem Ausmass. Wir wollen nun in einer randomisierten klinischen Studie untersuchen, ob wir dies für die Immuntherapien beim Melanom bestätigen können. Im Moment vergeben wir Termine einfach nach Verfügbarkeit. Vielleicht spielt die Tageszeit tatsächlich eine Rolle – und wir könnten Nebenwirkungen reduzieren oder die Wirksamkeit steigern, wenn wir das berücksichtigen.
In der Schweiz sind über 80 Prozent der klinischen Studien industriefinanziert. Wie wirkt sich das auf geschlechterspezifische Forschung aus?
Wir brauchen die Industrie für Innovation, das ist klar. Firmen haben ein Interesse an Medikamenten, die «für alle» zugelassen werden können – das ist aus einer Businessperspektive verständlich, aber aus medizinischer und gesellschaftlicher Perspektive sollten auch industriegesponserte Studien die Wirksamkeit und Nebenwirkungen getrennt nach Geschlecht untersuchen und berichten. Die akademische Forschung kann einen grossen Beitrag dazu leisten, zu zeigen, ob es Unterschiede gibt und wie gross sie sind. Dazu würde es sehr helfen, wenn die Daten, die in industriegesponserten Studien erhoben werden, für akademische Forschung zur Verfügung stehen würden. Aktuell ist es sehr schwer, an diese Daten zu kommen. Aus Mangel an soliden Daten behandeln wir im Moment alle Patienten und Patientinnen gleich, im Wissen, dass Frauen mehr Nebenwirkungen haben. Das ist ein grosses Problem.
Italien hat Geschlechterunterschiede in der Forschung gesetzlich verankert. Wäre das auch ein Modell für die Schweiz?
Ich denke, ja. Ein gesetzlicher Rahmen würde helfen, Gendermedizin zu verankern – nicht als Modewort, sondern als Pflicht. Wir sprechen ständig vom Diskriminierungsverbot. Aber wenn Frauen oder Männer systematisch unterversorgt sind, ist das letztlich auch diskriminierend.
Was braucht es darüber hinaus, damit Gendermedizin in der Schweiz Fahrt aufnimmt?
Langfristige Programme. Das Nationale Forschungsprogramm NFP 83 ist ein toller Anfang, aber es reicht nicht. Wir brauchen Kontinuität. Gendermedizin darf kein Spezialthema bleiben. Sie gehört unabhängig vom Fachgebiet in jede Forschung, Ausbildung und Leitlinie. Nur dann erreichen wir echte Präzisionsmedizin.
Beim ersten Swiss Gender Medicine Symposium im Oktober haben Sie über Onkologie diskutiert. Welche Botschaft war Ihnen besonders wichtig?
Dass Gendermedizin keine akademische Nische ist. Sie ist die Basis moderner Präzisionsmedizin. Wir wissen um die Datenlücke, jetzt müssen wir sie schliessen: Mit Forschung, die direkt in Leitlinien einfliessen kann. Präzisionsmedizin für alle gelingt nur, wenn das Geschlecht als entscheidender Faktor in Forschung und Praxis verankert ist.
Wie erleben Sie die jüngere Ärztegeneration –ist sie für das Thema sensibilisiert?
Ja, sehr sogar. Ich erlebe Studierende, für die es selbstverständlich ist, dass Männer und Frauen nicht die gleiche Dosis bekommen sollten. Sie sind überrascht, wenn sie erfahren, dass das in der Praxis noch kaum umgesetzt wird. Das zeigt: Das Bewusstsein ist da, die Strukturen hinken hinterher.
Welche Chancen und Risiken sehen Sie in der Künstlichen Intelligenz?
KI kann viel Gutes bewirken, wenn wir sie richtig nutzen. Sie kann Daten bündeln, mögliche Zusammenhänge aufzeigen und helfen, Dosierungen zu individualisieren. Aber: Wenn wir schlechte oder verzerrte Daten hineingeben, reproduzieren wir den Bias. Dann wird Ungleichheit digitalisiert. Zudem kann KI die Kreativität und Empathiefähigkeit des menschlichen Gehirns nicht ersetzen. Es bleibt also nach wie vor an uns, die richtigen Fragen zu stellen und nicht zu vergessen, dass unsere Forschung zum Ziel haben sollte, die Lebenserwartung und Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten zu verbessern.
Was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft?
Mehr Bewusstsein – und Mut. Gendermedizin ist keine Identitätspolitik, sondern die Grundlage der Präzisionsmedizin. Wir müssen Daten erheben, Forschung fördern und verstehen, dass Gleichstellung nicht heisst, alle gleich zu behandeln, sondern gerecht.
Und was gibt Ihnen persönlich Kraft?
Die Natur. Ich bin ein Mensch, der sich über kleine Dinge freuen kann – ein Sonnenaufgang, eine Blume im Schnee. Und das Wissen, dass ich mich täglich für meine Patientinnen und Patienten einsetze, dass sie die beste Behandlung bekommen. Jede Begegnung ist einzigartig, jede Geschichte lehrt mich etwas über das Leben. Das motiviert mich, weiterzumachen und die Medizin gerechter zu machen.