Nach einer grossen Operation oder einer schweren Entzündung werden Patientinnen und Patienten im Spital mit dem Blutgerinnungshemmer Heparin behandelt, um Thrombosen zu vermeiden. Bei wenigen von ihnen kommt es jedoch zu einer seltenen Komplikation, die HIT (Heparin-induzierte Thrombozytopenie) genannt wird und bei welcher der Körper Antikörper bildet, was paradoxerweise zu schweren lebensbedrohlichen Embolien führt. Nur ein sofortiges Absetzen von Heparin und eine Weiterbehandlung mit anderen aggressiven Blutgerinnungshemmern kann dies vermeiden.
Bislang kann HIT im Spital nur schwer diagnostiziert werden. Bei Verdacht kann ein Labortest zwar die typische Reduktion der Blutplättchen (Thrombozyten) nachweisen, das allein ist jedoch noch kein sicherer Hinweis auf HIT. Wird eine Patientin oder ein Patient fälschlicherweise auf HIT behandelt, so ist dies wiederum gefährlich.
Fachleute der Labormedizin des Inselspitals haben jüngst in einer langjährigen prospektiven Multicenter-Studie in Zusammenarbeit mit Datenwissenschaftlern der Universität Bern ein diagnostisches Vorhersagemodell entwickelt, welches den behandelnden Ärztinnen und Ärzten Angaben liefert, um HIT zuverlässig zu diagnostizieren.
KI-System integriert Laborwerte und klinische Daten
Das Forscherteam um Prof. Michael Nagler schloss die Daten von 1393 Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf HIT aus 10 Spitälern ein, von denen sie klinische Daten sowie Laborwerte sammelten. Kombiniert man diese Information mit zwei einfach im Alltag zu beantwortenden klinischen Fragen, so kann eine Künstliche Intelligenz (KI) zuverlässig angeben, ob die Person mit grosser Wahrscheinlichkeit HIT hat oder wann ein HIT äusserst unwahrscheinlich ist. Ebenso möglich sind die Ergebnisse: «wenig wahrscheinlich» sowie «eher wahrscheinlich», nach denen die Fachpersonen dann einen weiteren Test machen können, um die Diagnose sicher zu stellen oder auszuschliessen.
Klinisch sofort einsetzbare KI-Tools
«Ein solches diagnostisches Machine Learning Tool im Bereich Labormedizin ist weltweit einzigartig», sagt Michael Nagler über den Ansatz, der mithilfe von Feedback von KI-Experten des Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) der Universität Bern in ein Online-Tool umgesetzt wurde. «Schon länger ist man auf der Suche nach guten Ansätzen zur HIT-Diagnose. Aber unser System ist echte Pionierarbeit und zeigt eine deutlich verbesserte Performance gegenüber bisherigen diagnostischen Tools mit starker Verringerung der falsch positiven aber auch der falsch negativen Ergebnisse. »
Prof. Dr. Raphael Sznitman, der eine KI-Forschungsgruppe am ARTORG Center for Biomedical Engineering Research an der Universität Bern leitet und bei der Algorithmus-Entwicklung mitgewirkt hat, ergänzt: «Wir sind hier in Bern extrem weit damit, KI-Systeme zu entwickeln, die aus einem klinischen Bedarf entstehen und direkt in der Klinik angewendet werden können. Durch neue Technologien können wir Fachpersonen unterstützen, rasch und zuverlässig den richtigen Therapieentscheid zu treffen. Das ist extrem motivierend, denn wir sehen, dass unsere Forschung direkt zu einer verbesserten Versorgung von Patientinnen und Patienten beiträgt! »