Am 20. und 21. Oktober 2025 wurde das Kursaal-Gebäude in Bern zum internationalen Treffpunkt für führende Köpfe aus Wissenschaft, Klinik, Politik und Industrie. Das Swiss Gender Medicine Symposium (SGMS) zeigte eindrücklich, welche transformative Kraft geschlechtersensible Medizin entfalten kann. Unter dem Patronat von Roche, der Philas Foundation, Initiative Schweiz und Müller-Möhl Foundation wurde klar: Gender Medicine ist nicht nur ein medizinisch, sondern auch ein wirtschaftlich relevantes Thema.
Im Zentrum des Symposiums stand die Frage, wie Medizin präziser, gerechter und wirksamer werden kann. Professorin Beatrice Beck-Schimmer aus Zürich brachte es auf den Punkt: «Gender Medicine ist längst kein Nischenthema mehr, sondern ein zentraler Bestandteil der Präzisionsmedizin. Wir müssen Wissenslücken schliessen – nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Gesellschaft. »
Ihre Vision: eine Medizin, die biologische Unterschiede ernst nimmt, interdisziplinär denkt und gesellschaftlich wie wirtschaftlich relevant bleibt. Datenerhebungen und -analysen, die das Geschlecht einschliessen, sowie der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) sind zentrale Schlüssel, um geschlechtsspezifische Unterschiede in Diagnose und Therapie zu adressieren. Das ist nicht selbstverständlich, müssen in der Schweiz doch erst seit 2024 (!) auch Frauen in klinische Studien eingeschlossen werden.
Von der Forschung in die Versorgung
Das Symposium zeigte, dass geschlechtergerechte Forschung unmittelbare Auswirkungen hat – von der Gehirngesundheit über sportmedizinische Unterschiede bis hin zur Teamzusammensetzung im Operationssaal. Professor Guido Beldi aus Bern demonstrierte anschaulich, dass gemischte OP-Teams Komplikationen während der OP reduzieren, indem sie die Kommunikation verbessern. Vielfalt steigert – sofern bewusst eingesetzt – Patientensicherheit, Behandlungserfolg und eine gesunde Teamdynamik gleichermassen.
Auch die ökonomische Dimension kam zur Sprache. Carolina Müller-Möhl, Gründerin der Müller-Möhl Foundation und der taskforce4women, machte deutlich:
«Wenn wir die Aspekte Geschlecht und Gender in der Medizin ignorieren, verlieren wir nicht nur Lebensqualität, sondern auch wirtschaftliches Potenzial.» Sie leitete damit zum Referat von Dr. Valentina Sartori über, die auf Basis ihrer Daten gründlich aufräumte mit etlichen Mythen zur Frauengesundheit, nämlich dass «Frauen gesünder seien, weil sie ja länger leben würden», dass «Investitionen in Frauengesundheit sich aus Sicht der Pharmaindustrie nicht lohnen würden » oder dass «Frauen einfach kleinere Männer seien».
Sie plädierte dafür, auch die Sicht der Arbeitgeber, Investoren, Industrie und öffentlichen Hand einzubeziehen und Frauengesundheit nicht länger als «nice to have» anzusehen.
Die Schweiz als Innovationsstandort mit Potenzial für Gendermedizin
Die Schweiz wurde mehrfach als Innovationsstandort hervorgehoben. Ruth Metzler, Altbundesrätin und Präsidentin von Swiss Olympic, betonte, dass das vernetzte Ökosystem, die wachsende Zahl von Fem-Tech-Start-ups und stabile Rahmenbedingungen die Schweiz prädestinieren, international eine führende Rolle in der Gender Medicine zu übernehmen. Dies erfordere jedoch politische und wirtschaftliche Weitsicht – etwa bei Export- und Förderstrukturen, die Innovation möglich machen.
Auch der Sport spielte eine wichtige Rolle. Die Professorinnen Angelica Lindén Hirschberg und Sanne Peters verdeutlichten, wie stark biologische Unterschiede – etwa Hormonspiegel, Muskelmasse oder Herz-Kreislauf-Kapazität – unsere Leistungsfähigkeit und Gesundheit beeinflussen. Krankheiten wie Herzinfarkt, Diabetes oder Schlaganfall verlaufen bei Frauen oft mit diffuseren Symptomen als bei Männern, werden später erkannt und müssen anders behandelt werden. Leitlinien, Ausbildung und Prävention müssten sich daran anpassen. Wie eine kurze Recherche der Müller-Möhl Foundation ergab, sind die Ausbildungsorganisationen im Bereich der Ersten Hilfe und Notfallmedizin sehr daran interessiert, hier ein Projekt zu starten. Ein weiterer Fokus lag auf der kognitiven Gesundheit von Frauen. Antonella Santuccione Chadha von der Women’s Brain Foundation stellte die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Rollen und psychischer Gesundheit in den Mittelpunkt ihrer Rede. Die Frage «Was würde passieren, wenn Frauen einen Tag lang keine Care-Arbeit leisten würden?» machte deutlich, wie sehr mentale Gesundheit von struktureller Belastung abhängt.
Ein Blick in die Zukunft
Zunehmend entstehen in der Schweiz universitäre Strukturen, die Gender Medicine fördern: neue Lehrstühle, ein Core-Curriculum von Swissuniversities und Kooperationen zwischen Universitäten und Kliniken. Professorin Carole Claire aus Lausanne betonte, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend ist, um anerkannte gendersensible Leitlinien und Behandlungsstrategien zu entwickeln.
Auch die internationale Perspektive war zentral. Professorin Londa Schiebinger aus Stanford zeigte anhand konkreter Beispiele auf, wie globale Vernetzung, Datenaustausch und gemeinsame Standards die Grundlage für evidenzbasierte, geschlechtergerechte Medizin bilden. Professorin Louise Pilote aus Montreal präsentierte die Going-forward-Initiative, bei der sich fünf Länder zusammengeschlossen und auf einheitliche Definitionen geeinigt haben, um vergleichbare und hochwertige Studien zu lancieren.
Weiter wurde von Ivo Schauwecker, einem Patientenvertreter, dafür plädiert, künftig vermehrtdie Patientensicht und die Öffentlichkeit in die Studienplanung und ins Policymaking einzubeziehen. Dies erfordert eine entsprechende Ausbildung von Ärztinnen und Forschern. Der Patient-Public-Involvement-Ansatz steckt in der Schweiz noch in den Kinderschuhen, und es muss noch genauer evaluiert werden, wie man mehr Patientinnen und Patienten dazu bringen kann, sich hier einzubringen.
Zum Abschluss hat Professor Thomas Lüscher auf eindrückliche Weise aufgezeigt, wie mithilfe von KI und Big-Data-Analysen die Diagnostik und Behandlung in der Kardiologie revolutioniert werden – und dank unbeeinflusster Mustererkennung in der Regel besser abschneidet als erfahrene Ärztinnen und Ärzte. Voraussetzung ist das Training mit grossen Datensätzen und die Validierung der Algorithmen. Ernüchternd war, dass die KI die Ärztinnen sogar bei der empathischen Begleitung der Patientinnen und Patienten schlägt …
Am Ende wurde deutlich: Gender Medicine ist weit mehr als Forschung. Sie ist Vision, Praxis und gesellschaftliche Verantwortung zugleich – und eine Chance für unsere Gesundheit und Wirtschaft. Falls Sie dieses Symposium verpasst haben: das nächste findet am 26. und 27. Oktober 2026 wiederum in Bern statt.
Carolina Müller-Möhl, Präsidentin Müller- Möhl Foundation
Dr. Sabine Basler, Geschäftsführerin Müller- Möhl Foundation
Valentina Contopodi, Mitarbeiterin Müller- Möhl Foundation